Karl Heinz Roths Buch »Blinde Passagiere« über die Covid-19-Pandemie

Gar nichts im Griff

Karl Heinz Roths Studie »Blinde Passagiere« zeichnet die Covid-19-Pandemie detailliert nach – als Konsequenz der kapitalen Globalisierung und des austeritären Staats.
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Zugegeben, Mahner können einem auf die Nerven fallen – vor allem, wenn sie einem Unbequemlichkeiten aufbürden möchten. Aber wenn sie nun mal recht haben? Wie bei Kindern, denen es schwerfällt einzusehen, dass sie sich die Zähne nicht ihren Eltern zuliebe putzen sollen, sondern um sich vor Karies zu schützen, scheint es sich auch bei neoliberal gesinnten Politikern und ihren Claqueuren zu verhalten, die so tun, als ob Infektionsschutz und ein funktionstüchtiges Gesundheits­system nur geschäftsschädigende Marotten übellauniger Virologen wären: Obwohl längst klar ist, dass Sars-CoV-2 die Menschheit zukünftig ebenso begleiten wird, wie es Karies von jeher getan hat, sieht, um ein typisches Beispiel herauszugreifen, Alice Weidel (AfD) in Covid-19 weiterhin »kein echtes Problem«.

So viel Ignoranz kann man Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nicht nachsagen. Doch wenn er tönt: »Wir haben das im Griff«, wie er es vor der Verabschiedung der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes im Bundestag am 8. September getan hat, gleicht das dem sprichwörtlichen Pfeifen im Walde. Zwar schreibt das novellierte ­Infektionsschutzgesetz wenigstens in Fernzügen und medizinischen sowie pflegerischen Einrichtungen das Tragen von FFP-2-Masken vor, also das absolute Minimum an Infektionsvorbeugung, ansonsten aber schiebt es die Verantwortung für weitergehende Vorkehrungen – Masken- und Abstandspflicht bei Veranstaltungen und in geschlossenen Räumen etwa – in der Hauptsache auf untere Verwaltungsebenen ab: auf die Länder, deren Parlamenten es obliegt, »Gefahrenlagen« festzustellen, sowie in der sogenannten Hotspot-Regelung auf Kreise und Kommunen, und damit letztlich wieder auf das Personal von Kliniken, Supermärkten und Verkehrsbetrieben.

Insbesondere fehlt es an dem, was eine derartige Gesetzesnovelle der »Ermöglichungen« (Lauterbach) überhaupt mit Sinn erfüllen könnte. Denn um lokale und regionale Schwerpunkte des Infektionsgeschehens einigermaßen korrekt und schnell feststellen zu können – der sogenannte Pandemieradar, von dem das Bundesgesundheitsministerium spricht –, bedürfte es einer Form der Datenerhebung und -verarbeitung, die das marode Gesundheitssystem de facto überfordert. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft beklagte, die geforderte elektronische Meldung von Infektionen unter anderem mit dem Coronavirus sei derzeit technisch nicht möglich: Die vom Bund angebotenen Softwareschnittstellen und digitalen Anbindungen an die Gesundheitsämter seien völlig unzureichend – Eugen Brysch von der Stiftung Deutscher Patientenschutz bezeichnete die Gesetzesnovelle entsprechend als »zahnlosen Tiger«. Der vielgefürchtete Maßnahmenstaat erweist sich wieder einmal als unwillig, geeignete Maßnahmen zu ergreifen; von verpflichtenden Impfungen kaum eine Spur, dafür umso weniger Testpflichten.

Roth, Arzt und Historiker, betrachtet die Pandemie mit dem Wissen des Mediziners und Sozialgeschichtlers aus der Perspektive derer, die in der Coronakrise mehr zu verlieren haben als lediglich ihre gewohnten Freizeitbeschäftigungen.

Entsprechend werden wohlbegründete Mahnungen und üble Vorzeichen geflissentlich ignoriert oder abgetan, obwohl es ihrer viele sind: Da ist die »Evolution im Zeitraffer« von Sars-CoV-2, wie es die Virologen des Robert-Koch-Instituts formuliert haben, die monatlich neue Stämme hervorbringt, die in der Lage sind, den Impf- oder Immunschutz gegen die Delta-Variante – sofern der überhaupt noch besteht – teilweise zu umgehen; momentan macht die in Indien grassierende Omikron-Subvariante BA.2.75 der insbesondere auf der nördlichen Halbkugel vorherrschenden Variante BA.5 Konkurrenz, durchaus mit Potential, neuerliche globale Ansteckungswellen auszulösen; BA.5 mutiert gegenwärtig selbst (an der Position 346), auch das dürfte die Infektionsraten erhöhen.

Da ist die Wechselwirkung zwischen Covid-19 und der Grippe, die ihren Effekt bereits in der diesjährigen Sommergrippewelle gezeigt hat, die ein ungewöhnliches Ausmaß annahm; die neuen Grippestämme treffen wenig überraschend nach zwei Jahren Pandemie auf geschwächte und unvorbereitete Immunsysteme – die Fallzahlen schwerer Atemwegserkrankungen werden also in der kalten Jahreszeit hochschnellen, auch wenn neue Omikron-Varianten eher milde Krankheitsverläufe auslösen sollten. Derzeit geben die »Wiesn-Welle« und die daraus folgende Bettenknappheit in bayerischen Kliniken bereits einen kleinen Vorgeschmack darauf, was bevorsteht, wenn ein rasanter Anstieg der Fallzahlen auf ein völlig ausgeblutetes Gesundheitssystem trifft, dem es mehr denn je an Personal und mittlerweile auch an Standardmedikamenten fehlt (ein Effekt unter anderem der im Zuge von Covid-19 zerschlissenen Lieferketten, siehe Jungle World 31/2022 ).

»Im Griff«? Wohl eher dürfte die Bestandsaufnahme zutreffen, die Susanne Johna, die Vorsitzende des Ärzteverbands Marburger Bund, Ende Juli vorgenommen hat: »Stationen, Notaufnahmen und der Rettungsdienst können wegen Personalmangels teilweise nicht mehr betrieben werden (…) das Gesundheitssystem kommt stellenweise wieder an Grenzen. Wir machen uns noch mehr Sorgen vor dem Herbst. Dann werden wir es nicht nur mit einer Corona-, sondern wahrscheinlich auch mit einer heftigen Grippewelle zu tun haben.« Ihr Fazit: »Im dritten Pandemiejahr ist das eine kleine Katastrophe.« Dieser sprachliche Lapsus – eine Katastrophe kann dem Wortsinn nach nicht klein sein – hat sein Quantum Wahrheit: Die Katastrophe trifft eben vor allem die »Kleinen«, jene Unrentablen, die bloß Kosten verursachen: chronisch Kranke – nicht weniger als acht Prozent der Deutschen leiden an Autoimmunerkrankungen und sind deshalb extrem infektionsgefährdet – und Krebspatienten in allererster Linie.

Dass diese Katastrophe von ihren Anfängen bis nunmehr in den drit­ten Pandemiewinter eine Katastrophe mit System ist, zeigt kein anderes auf dem deutschsprachigem Markt befindliches Buch detaillierter als Karl Heinz Roths »Blinde Passagiere« – das dabei kein Jota an Klarheit und Struktur verliert. Roth, Arzt und Historiker, betrachtet die Pandemie mit dem Wissen des Mediziners und Sozialgeschichtlers aus der Perspektive derer, die in der Coronakrise mehr zu verlieren ha­ben als lediglich ihre gewohnten Freizeitbeschäftigungen, aus der Perspektive chinesischer Wanderarbeiter beispielsweise oder derer, die dem im globalen Maßstab privatisierten Gesundheitswesen ausgeliefert sind, sei es als unterbezahlte Beschäftige oder als unterversorgte Patienten.

Die akribisch recherchierte Stu­die räumt mit gängigen Mythen auf, ohne überhaupt besonders auf sie eingehen zu müssen. So zeichnet Roth die Bedingungen der Entstehung dieser Pandemie nach: als direkte Folge der Verlagerung der Industrieproduktion im Rahmen der sogenannten Neuen Internationalen Arbeitsteilung in asiatische Niedriglohnländer, zuvörderst China. Das löste ursächlich die neueren Pande­mien aus, zunächst die Vogelgrippe und dann die beiden Sars-Wellen – die erste 2002/03, die zweite ab Dezember 2019. Sie sind Produkt des Aufeinandertreffens riesiger verarmter Arbeiterheere mit rücksichtslosester Ressourcenausbeutung. Je weiter sich die Slums in bisher schwer zugängliche Wälder fressen und je billiger ihre Bewohner ernährt ­werden müssen, desto höher die Wahrscheinlichkeit von Zoonosen: Die Wildtiermärkte und die schier unvorstellbaren Bedingungen der Billigfleischproduktion bilden in ­einem Einfallstore für tierische Viren und Mutationslabore, in de­nen sie zur Humanpathogenität heranreifen. Wenig mehr als drei Jahre vergingen von der ersten Entdeckung von Sars-CoV-2 im Schweinebestand von Guangdong (2016) bis zum Ausbruch der Pandemie in Wuhan.

War das Virus selbst schon eine Art Systemfehler kapitaler Globalisierung, so deckte seine Verbreitung schonungslos weitere Systemfehler auf. In den sogenannten wohlhabenden Ländern sind dies vor allem die Folgen der Privatisierung und Rentabilisierung des Gesundheitswesens, die im Wesentlichen auf Verknappung von Mensch und ­Material hinausgelaufen war. So unterblieben in den westlichen Ländern – mit der rühmlichen Ausnahme Taiwans, das seine bittere Lek­tion schon in der Vogelgrippepandemie gelernt hatte – sämtliche eigentlich notwendigen Pandemiemaßnahmen: die Aufstockung der Krankenhauskapazitäten, insbesondere die Einrichtung spezifischer Fieberkliniken; die Bildung von Vorräten an relevantem Mate­rial von Desinfektionsmitteln bis Schutzkleidung; die Sicherstellung der Produktion solcher Materialien; die Epidemievorbereitung in geschlossenen Wohneinrichtungen, vor allem hinsichtlich der Personalschlüssel und Qualifikation.

All das unterblieb, weil der austeritäre Staat kein Interesse an weiten Teilen seiner Bevölkerung hegt, insbesondere an der bereits vernutzten Arbeitskraft; Interesse hat er an Kostendämpfung, outsourcing und lean production in jedem Bereich öffentlicher Dienstleistung. Bezeichnend ist, dass man es im Frühjahr 2020 nicht einmal gewagt hatte, die auf zwei Wochen getakteten Bevorratungszyklen der Pharmagroßhändler und Apotheken in Frage zu stellen.

Dass sich an alledem Staatskritik entzünden muss, liegt auf der Hand. Allerdings ist sie im Konjunktiv, in Form von »wenn« und »wäre«, zu halten, wie es Karl Heinz Roth tut: »Die als ›Lockdown‹ bezeichneten Maßnahmenbündel zum behördlichen Einfrieren des privaten, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens wären wahrscheinlich unnötig gewesen, wenn die spontanen Selbstschutzmaßnahmen der Bevölkerung unterstützt worden wären, die epidemiologischen Frühwarnsysteme funktioniert hätten und die besonders gefährdeten Gesellschaftsgruppen rechtzeitig vor dem verheerenden Zugriff von Sars-CoV-2 geschützt worden wären.«

Der austeritäre Staat war und ist unwillens, vor allem im letzten Punkt zu reagieren, riefe ihn das doch in die kostenträchtige Verantwortung für Pflege, Heilung und Prävention zurück; seiner Ratio gemäß scheut er diese und bürdet sie den Einzelnen – in sogenannter Eigenverantwortung – auf. Letztlich ist es schlicht billiger, das Freizeitver­halten der Bürger insgesamt und vor­übergehend (wie man bislang bei ­jeder Welle hoffte) einzuschränken, als die profitablen liberalen »Errungenschaften« der vergangenen Jahrzehnte zu gefährden. Andere Pläne, als möglichst fix wieder zum Vor-Corona-Zustand zurückzukehren, sich möglichst fix wieder auch gesetzgeberisch aus der Verant­wortung zurückzuziehen, verfolgt das Führungspersonal dieses Staats nicht – das novellierte Infektionsschutzgesetz spricht da Bände. Der austeritäre Staat wäre also weniger für das zu kritisieren, was er angeblich tut, als für das, was er tatsächlich nicht tut – und das jetzt schon im dritten Jahr.

Karl Heinz Roth: Blinde Passagiere. Die ­Corona-Krise und die Folgen. Kunstmann, München 2022, 480 Seiten, 30 Euro