Wieder nichts
Es ist heutzutage unmöglich, bei Ruth Rehmanns Roman »Illusionen« nicht zuerst an die Figurenkonstellation der Großstadt-Saga »Sex and the City« zu denken. Die Handlung des 1959 erstmals erschienenen Romans spielt in einer rheinischen Stadt in den sogenannten Wirtschaftswunderjahren. Drei Frauen, und dazu noch ein unglücklich gebundener Mann, teilen sich ein Büro im 13. Stock eines architektonisch kühnen Gebäudes, um am Wochenende aus dem Hamsterrad des nine-to-five job auszubrechen und etwas zu erleben, das ihrem Leben den entscheidenden Impuls geben soll. Eine neue Frisur, ein Treffen mit der Freundin, ein Liebhaber oder die nächste Party – alles kann den Unterschied machen und schlagartig alles ändern. Auch wenn das Resümee am Sonntagabend oft genug lautet: »Wieder Spiegel. Parfüm an die Schläfen. Wieder Lippenstift. (…) Wieder nichts.«
Es geht nicht vor und zurück für die perfektionistische Chefsekretärin Frau Schramm, die alterslose Carmen Viol, die vergnügungssüchtige Therese Pfeiffer und den schüchternen Übersetzer Paul Westermann, sondern immer nur im Kreis. Und der beginnt jeden Montag aufs Neue und endet erst mit der Entlassung aus Altersgründen. Obgleich der Roman bei seinem Erscheinen sogar in der männerbündigen Gruppe 47 viel Zuspruch erfuhr, ist er heute weitgehend vergessen. Im Berliner Aviva-Verlag ist er jetzt aus Anlass des 100. Geburtstages der Autorin am 1. Juni 2022 wieder erschienen.
Der Roman beeindruckt durch die Eleganz des Stils, den überbordenden Detailreichtum in der Beschreibung des Großstadtlebens und die kühle Psychologie der Figurenzeichnung. Siegfried Kracauer hat in seiner Studie »Die Angestellten« (1930) die geistige Obdachlosigkeit der Mittelschicht zwischen Büroalltag und Zerstreuungskultur beschrieben. Ruth Rehmann erforscht in »Illusionen« die falschen Glücksversprechen, die die entstehende Massengesellschaft insbesondere dem wachsenden Heer weiblicher Angestellter macht.
Ruth Rehmann: Illusionen. Aviva-Verlag, Berlin 2022, 320 Seiten, 24 Euro