Belarus verstärkt die militärische Zusammenarbeit mit Russland

Erhöhte Alarmbereitschaft

Seit Wochen gibt es Spekulationen über einen möglichen Eintritt von Belarus in den Ukraine-Krieg. Der Machthaber Lukaschenko hat ­derartige Absichten stets dementiert, zugleich aber die militärische Zusammenarbeit mit Russland noch weiter verstärkt.

Verbindlichkeit zählt nicht zu den Stärken von Aleksandr Lukaschenko. Zwar stellt der belarussische Präsident ständig unter Beweis, dass er an seinem Amt auf Teufel komm raus festhält, seine Äußerungen zum Tages­geschehen strotzen hingegen oft vor Widersprüchen. Das trifft insbesondere auf die Rolle von Belarus im Krieg zu, den Russland in der Ukraine führt.

In der Öffentlichkeit hält sich Lukaschenko normalerweise an die Ver­sion, wonach sich das von ihm seit fast drei Jahrzehnten angeführte Land erst im Fall einer Invasion ausländischer Truppen auf belarussisches Staatsgebiet an einem Krieg beteiligen werde. Bei einer Sitzung des belarussischen Verteidigungsministeriums Anfang Oktober modifizierte er indes seine Ansicht über den Ukraine-Krieg. »Wir beteiligen uns daran«, gab der Präsident dort offen zu – mit einer Einschränkung: »Aber wir töten niemanden.« Und auch seine Truppen entsende er nirgendwo hin.

Ein Einsatz belarussischer Truppen scheint unwahrscheinlich, da Lukaschenkos Armee allein von ihrer Ausrüstung her dazu kaum imstande ist.

Für eine aktive Kriegsteilnahme ist das auch nicht erforderlich. Strategische Bedeutung kommt Belarus allein schon durch die geographische Nähe zur ukrainischen Hauptstadt Kiew zu. Lukaschenkos Begründung lautet anders: Seine Regierung sorge dafür, dass sich der bewaffnete Konflikt nicht aufgrund von Angriffen Polens, Litauens und Lettlands auf belarussisches Gebiet ausweite, damit halte Belarus dem russischen Partner den Rücken frei.

Just zum Zeitpunkt zahlreicher russischer Drohnenangriffe auf Kiew Mitte Oktober scheint dieser von Lukaschenkos Regime ausgeübte Part an Bedeutung zu gewinnen. Am Montag wurde bekannt, dass Belarus seine ­Kapazitäten zur Grenzüberwachung ausgeweitet habe. Bereits am Wochenende trafen zudem erste Truppenkontingente aus Russland ein, die als Teil einer gemeinsamen regionalen Mili­täreinheit eingesetzt werden sollen. Am 10. Oktober berief der belarussische Präsident zum zweiten Mal innerhalb einer Woche die Leitung des Sicherheitsapparats ein. Bei der Sitzung wetterte er gegen die ukrainische Führung und unterstellte ihr, militärische Operationen gegen Belarus vorzubereiten.

Diese Behauptung musste als Begründung für die kurzfristige Zusammenstellung einer russisch-belarussischen Regionaltruppe herhalten, die auf der Grundlage eines Vertrags zwischen den beiden Ländern über militärische Zusammenarbeit aus dem Jahr 1997 möglich ist. Bei einem persönlichen Treffen von Lukaschenko mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin erfolgte nun eine ­konkrete Absprache über die Entsendung von 9 000 russischen Militärangehörigen. Außerdem stellt Russland etwa 170 Panzer und bis zu 200 gepanzerte Fahrzeuge zur Verfügung.

Mitte Oktober sorgte der belarussische Außenminister Wladimir Makej für einige Verwirrung, indem er in einem Interview für die kremlnahe Tageszeitung Iswestija davon sprach, sein Land habe die Streitkräfte für einen »Antiterroreinsatz« in Alarmbereitschaft versetzt. Wenig später dementierte der belarussische Staatsschutz KGB, auch Makej relativierte seine Aussage. Sie sei aus dem Zusammenhang gerissen worden, gemeint habe er lediglich einzelne »Antiterrormaßnahmen« im Sinne des vom Präsidenten formulierten Auftrags.

Da Lukaschenko seinerseits keine genauen Angaben macht, lassen sich nur Vermutungen über die Zielsetzung anstellen. Für einen großangelegten Militärangriff auf die Ukraine reicht das russische Kontingent nicht aus; womöglich handelt es sich nur um ein Ablenkungsmanöver, während Russland durch Raketenbeschuss in der gesamten Ukraine für exorbitante Zerstörung ziviler Infrastruktur sorgt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab Anfang der Woche bekannt, dass seit dem 10. Oktober fast ein Drittel der ukrainischen Elektrizitätswerke zerstört worden sei.

Ein Einsatz belarussischer Truppen scheint derzeit eher unwahrscheinlich, da Lukaschenkos Armee allein von ­ihrer Ausrüstung her dazu kaum imstande ist. Die traditionsreiche und in Belarus verbotene Oppositionszeitung Nascha Niwa berichtete indes, dass Lukaschenko inzwischen eine prinzipielle Entscheidung zur Einberufung Wehrfähiger getroffen habe, ohne dies offen kundzutun. Offiziell ist nur die Rede von einer Aktualisierung vorliegender Daten in den Wehrersatzämtern, die bis Mitte November abgeschlossen sein soll.

Aus dem ganzen Land treffen bei Nascha Niwa Nachrichten ein, dass Männer Vorladungen zum ­Militär erhielten. Zunächst gehe es tatsächlich nur um einen ­Datenabgleich, anschließend würden aber schriftliche Befehle ausgehändigt, sich an Sammelpunkten einzufinden. Große Nachfrage bestehe an Panzerfahrern, auch würden Vorschläge unterbreitet, sich weiterzubilden oder einen Offiziersrang zu erwerben. Von Unternehmen, Schulen und Universitäten werde verlangt, Listen mit den Namen Wehrtauglicher vorzulegen. Der Leiter einer kleinen Firma im Minsker Umland teilte der Zeitung mit, dass 70 Prozent der Angestellten bereits eine Vorladung erhalten ­hätten.

Auch wenn keine verlässlichen Zahlen vorliegen, schüren diese Nachrichten Spekulationen, Russland könnte einen zweiten Anlauf wagen, Kiew einzunehmen. Dafür würden dann womöglich auch belarussische Reserven benötigt. Lukaschenko würde Putin keinen Dienst verweigern, denn ohne dessen Unterstützung steht sein Machterhalt in Frage. Anders als in Russland, wo der Sicherheitsapparat ­Putin unterstützt, hat es der belarussische Alleinherrscher allerdings mit ­einer gutorganisierten Fraktion Abtrünniger zu tun, die die demokratische Opposition unterstützt. Die Organisation Bypol versammelt ehemalige Mitarbeiter der Strafverfolgungsbe­hörden, die Lukaschenkos Legitimität nicht anerkennen und im Warschauer Hauptquartier für die »Stunde X« ­trainieren, in der sie die Regierung in Belarus stürzen.