Doppelanschlag in Jerusalem

Testfall für Netanyahu

Bei zwei Anschlägen an Bushaltestellen in Jerusalem wurden zwei Menschen getötet und über 20 weitere verletzt. Damit erreicht der gegenwärtige Terror in Israel einen neuen Höhepunkt.

Die Bilder vom Mittwochmorgen vergangener Woche wecken schaurige ­Erinnerungen. Innerhalb einer halben Stunde explodierten in Jerusalem Sprengsätze an zwei Bushaltestellen, und das mitten im morgendlichen Berufsverkehr. Zwei Menschen, und zwar der 16 Jahre alte israelisch-kanadische Aryeh Schupack, der an einer Yeshiva zur Schule ging, sowie der 50jährige Ta­dasa Tashume Ben Ma’ade, Vater von sechs Kindern, kamen dabei zu Tode, über 20 weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Wie in den schlimmsten Tagen der zweiten Intifada hatten Explosionen die Stadt erschüttert, wieder einmal sah man blutüberströmte Menschen unter Schock herumlaufen, zerstörte Autobusse sowie Krankenwagen, die unter Sirenengeheul zum Tatort jagen. Die Angriffe sind der Höhepunkt einer seit dem Frühjahr andauernden Terrorkampagne, in deren Verlauf bisher 28 Israelis ermordet wurden.

Doch etwas unterscheidet den Doppelanschlag von Jerusalem von den Angriffen zuvor, und das ist die Art und Weise, wie er ausgeführt wurde. Kobi Shabtai, Leiter der israelischen Polizei, sprach davon, dass man so etwas seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Zwei nahezu identische Sprengsätze, die ­zudem Nägel enthielten, um möglichst vielen Menschen Verletzungen zuzu­fügen, seien ferngesteuert gezündet worden. Genau das sei eine neue ­Qualität.

Seit Beginn dieses Jahres vereitelte der Inlandsgeheimdienst Shin Bet nach eigenen Angaben 34 Bomben­anschläge, über 330 geplante Angriffe mit Schusswaffen und 54 Messerattacken.

In den Monaten zuvor sahen die Angriffe anders aus. Einzeltäter waren mit Messern oder Äxten auf Israelis losgegangen. Mal rammten sie mit ihren Autos israelische Fahrzeuge, mal kamen Schusswaffen zum Einsatz – so wie ­bereits bei der Häufung von Terrorat­tacken vor rund sieben Jahren, als man deshalb von »einsamen Wölfen« sprach, die eine besondere Herausforderung für die Sicherheitsdienste darstellten, da die Täter ihnen zuvor noch nicht aufgefallen waren.

Omer Bar-Lev (Arbeitspartei), der derzeit noch als Minister für öffentliche Sicherheit amtiert, sagte am selben Tag, dass diese Explosionen wohl kaum das Werk von »jemandem sind, der erst heute Morgen beschlossen hat, einen Anschlag zu verüben«. Ein auf der Nachrichtenplattform Ynet zitierter, anonym gebliebener Armeevertreter vertritt eine ähnliche Theorie. Es seien gewiss Profis mit guten Ortskenntnissen und technischem Know-how beteiligt gewesen. Zudem hätten sie abgewartet, bis sich möglichst viele Menschen an den Haltestellen befanden – das würde sich auch mit den Aussagen des Vaters eines der Opfer decken, der in der Times of Israel davon berichtete, dass sein Sohn kurz vor der Explosion einen Mann beobachtet habe, wie er die Bushaltestelle fotografierte. Nur bezweifelt der Experte, ob wirklich eine größere Organisation hinter dem Doppel­anschlag zu vermuten ist. Zwar hätten Hamas und der Islamische Jihad die Tat als »heldenhafte Operation« gepriesen, sich aber nicht dazu bekannt.

Weitere Verunsicherung kam auf, als eine iranische Hackergruppe, die sich »Mitarbeiter von Moses« nennt, über Telegram Videomaterial von einem der beiden Anschläge veröffentlichte, das von einer der vielen Überwachungskameras an Verkehrsknotenpunkten stammte. Offizielle Stellen spielten den Vorfall herunter. »Es gibt keinen Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften oder ein Durchsickern von Geheiminformationen«, betonte ein Beamter gegenüber dem Armeeradio. Doch die Frage bleibt, wieso ausgerechnet die Bilder einer einzigen Kamera, und das auch noch vom Zeitpunkt des Anschlags, in die Hände dieser Hackergruppe ­gelangen konnten. »Dieser Vorfall dient allein dem Zweck, Angst zu schüren«, sagte ein Vertreter der A­rmee ebenfalls auf Ynet.

Grund dafür besteht allemal. Seit Beginn dieses Jahres vereitelte der Inlandsgeheimdienst Shin Bet nach eigenen Angaben nicht weniger als 34 Bombenanschläge, über 330 geplante Angriffe mit Schusswaffen, 54 Messer­attacken sowie fünf Pläne, mit Fahrzeugen Menschen zu töten, zwei Selbstmordattentate und drei Entführungen. Und wieder einmal werden Diskussionen darüber geführt, ob eine Neuauflage des palästinensischen Aufstands ­ansteht oder nicht. »Es handelt sich vielleicht nicht um eine Intifada, da es kein gesellschaftliches Interesse daran  gibt«, lautet dazu die Einschätzung des Journalisten Avi Issacharoff, eines Kenners der palästinensischen Verhältnisse. »Aber das alles verweist auf einen klaren Trend hin zur Gewalt, der angesichts mehrerer relevanter Pro­zesse, die sich sowohl auf palästinensischer als auch auf israelischer Seite ­gerade abspielen, noch eskalieren dürfte.« Gründe dafür nennt er auch. »Die Macht der Palästinensischen Autonomiebehörde erodiert und ihre Zukunft ist alles andere als sicher. Noch wird sie von dem 87jährigen Präsidenten Mahmoud Abbas angeführt, der zudem einer zerstrittenen Fraktion (der Fatah, Anm. d. Red.) vorsteht. Auch ist nicht klar, was nach seinem Tod mit der PA geschehen wird.«

Michael Milshtein, ehemaliger Berater für palästinensische Angelegenheiten im Verteidigungsministerium, verweist bei der Nachrichtenagentur Jewish News Syndicate darauf, dass man es mit dem »Aufstieg der Generation Z in der palästinensischen Arena« zu tun habe, also jungen Palästinensern, die um das Jahr 2000 herum geboren wurden. »Die meisten von ihnen empfinden eine tiefe Entfremdung von der Palästinensischen Autonomiebehörde.«

Israel befindet sich gleichfalls in einer Übergangsphase, weshalb der Doppelanschlag in Jerusalem zu einem Testfall für Benjamin Netanyahu werden kann, und das bereits, bevor er als Ministerpräsident die Regierungsgeschäfte übernehmen wird – die Koalitionsverhandlungen dauern derzeit an. Einigen designierten Mitgliedern seines Kabinetts ist die Palästinensische Autonomiebehörde – egal ob mit oder ohne Abbas an der Spitze – sowieso ein Dorn im Auge, weswegen sie diese am liebsten auflösen würden. Genau das kann Netanyahu aber kaum wollen. Er weiß, dass Israel in vielerlei Hinsicht in Fragen der Terrorabwehr auf die Kooperation mit der palästinensischen Seite angewiesen ist.

Nach dem Anschlag von Jerusalem preschten aber einige sofort vor. Oder, wie es Yossi Verter in der Tageszeitung Haaretz formulierte: »Politiker, die das gelobte Land der Macht vor Augen ­haben, nutzten die Gelegenheit, die sich ihnen bot.« Allen voran Itamar Ben-Gvir, Vorsitzender der Rechtsaußen-Partei Otzma Yehudit sowie designierter Minister für öffentliche Sicherheit, der davon sprach, Israel müsse »einen Preis für den Terror fordern«, erneut »gezielte Tötungen« vornehmen und »die Abschreckung wiederherstellen«. Die politischen Novizen in seiner künftigen Regierung im Zaum zu halten und sie davon abzubringen, ihren Worten Taten folgen zu lassen, könnte ­Netanyahu vor eine der größten Herausforderungen seiner nächsten ­Amtszeit stellen. Und das schon bevor sie überhaupt begonnen hat.