Die Reportagen von W.E.B. Du Bois aus Nazideutschland

Deutschlandreise

1936 besuchte der afroamerikanische Soziologe W. E. B. Du Bois das nationalsozialistische Deutschland. Die Reportagen des Bürgerrechtlers auch über den von ihm beobachteten Antisemitismus sind jetzt erstmals auf Deutsch erschienen.

Als sich der US-amerikanische Soziologe, Historiker und Schriftsteller W. E. B. Du Bois im Jahr 1936 auf eine Reise nach Europa begab, fand er ­einen ihm zwar bekannten, aber politisch und sozial veränderten Kontinent vor. Vor allem Deutschland stand im Zentrum seines Interesses. Offiziell war er mit einem Forschungsauftrag unterwegs: Er sollte die industrielle Berufsausbildung im Deutschen Reich untersuchen, über die Du Bois kaum Schlechtes zu ­sagen wusste. So schilderte er seine Eindrücke vom Siemens-Konzern in aller Ausführlichkeit, von der Aufnahmeprüfung bis zum kostenlosen Mittagessen. Über das segensreiche Innenleben eines deutschen Großkonzerns konnte die Leserschaft des Pittsburgh Courier erfahren, Du Bois veröffentlicht nämlich seine Reiseberichte als Kolumnen in dieser Zeitung. The Pittsburgh Courier erschien damals wöchentlich – und war eine der führenden afroamerikanischen Publikationen des Landes. Du Bois, der als Schwarzer unter Weißen reiste, schrieb für ein vornehmlich schwarzes Publikum.

»Along the color line« ist der Titel, unter dem nun ein Teil der Kolumnen auf Deutsch veröffentlicht wurde, versehen mit einem erläuternden Nachwort des Herausgebers Oliver Lubrich. Der 1868 geborene Du Bois hatte um die Jahrhundertwende verkündet, das Problem des 20. Jahr­hunderts werde die »color line« sein. Diesen Ausdruck wörtlich mit »Farblinie«zu übersetzen, würde den Sinn verfehlen. Mit »color« ist natürlich die Hautfarbe gemeint und die »line« ist eine Grenze; mit »Rassentrennung« kommt man der Sache schon näher.

»Die Judenverfolgung »übertrifft an rachsüchtiger Grausamkeit und öffentlicher Herabwürdigung alles, was ich jemals erlebt habe, und ich habe vieles erlebt«, schrieb Du Bois.

Nun ist Du Bois durchaus nicht der einzige, der meinte, dass »Rasse« für das 20. Jahrhundert das entscheidende Problem sein werde – diese Ansicht wurde unter ganz verschiedenen Vorzeichen vertreten. 1899 ver­öffentlichte Houston Stewart Chamberlain sein rassistisches und anti­semitisches Pamphlet »Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts«, sein Idol Richard Wagner hatte knapp ein halbes Jahrhundert zuvor mit »Das Judentum in der Musik« die Grundlagen geschaffen.

In Europa formierte sich der Antisemitismus, ideologisch mit dem Rassismus verbunden, ihn teils aber auch überlagernd, als politische Kraft. Du Bois war mittendrin, er studierte von 1892 bis 1894 in Deutschland, in Heidelberg und in Berlin. Ein Ereignis des Jahres 1894, das von ­allen Intellektuellen diskutiert wurde und dem Antisemitismus neue Bedeutung verschaffte, war die Dreyfus-Affäre. Berühmte Soziologen wie Georg Simmel und Émile Durkheim mischten sich ein. Fast zehn Jahre später, 1903, veröffentlichte Du Bois sein epochales Werk »Die Seelen der Schwarzen«; es ist schwer vorstellbar, dass seine Beobachtungen des Assimilationsdilemmas der europäischen Juden – am Beispiel des französischen Offiziers Alfred Dreyfus, der als jüdischer Vaterlandsverräter angegriffen wurde – nicht seinen Begriff des »doppelten Bewusstseins« prägten. Doppelbewusstsein ist bei Du Bois das Dilemma der Unterdrückten, sich mit den Augen einer Gesellschaft sehen zu müssen, die sie verachtet. Es ist eine verallgemeinerbare Beobachtung, auch wenn Du Bois sie am Beispiel der US-amerikanischen Schwarzen verdeutlicht.

In den USA ist die Sklaverei erst kurz vor der Geburt von Du Bois verboten worden, es begann eine Phase der politischen, juristischen und ökonomischen Unterdrückung der Schwarzen, die in der institutionalisierten Rassentrennung ihren deutlichsten Ausdruck fand. Es sollte ein Jahrhundert dauern, bis diese abgeschafft wurde, womit die Unterdrückung freilich nicht zu einem Ende kam. Du Bois argumentiert in seiner Schrift »Schwarzer Wiederaufbau in Amerika«, erschienen 1935 kurz vor seiner Reise, dass mit und nach dem Bürgerkrieg eine Arbeiterdemokratie hätte erkämpft werden können und dass es entsprechende Bündnisse über die »color line« hinweg gab. Mit deren politischem Scheitern kam es zur Trennung von schwarzer und weißer Arbeiterklasse, verfestigt durch die Jim-Crow-Gesetze. Die Grundlage der »color line« in den USA war geschaffen. Und selbst der erste schwarze Harvard-Absolvent Du Bois musste das noch täglich erleben.

Die Leser der Kolumnen im Pittsburgh Courier dürften mit großem ­Erstaunen gelesen haben, wie Du Bois demgegenüber Europa, zumal Deutschland, schilderte. Nur Höflichkeit, Freundlichkeit, Neugier werden erwähnt, keine Beleidigung, kein Ausschluss, keine Diskriminierung. Und auch der heutige Leser staunt: Seitenlang schwärmt Du Bois vom Deutschen Museum für Wissenschaft und Technik in München, mit der vorsichtigen Einschränkung, dass gelegentlich das Menschheitsgeschichtliche zugunsten des Nationalen vernachlässigt werde, oder von den freundlichen Wirtshäuser in der »Hauptstadt der Bewegung«. Dass sich vor den Toren der Stadt ein Konzentrationslager befindet, erfährt man nicht. (Der Kommunist Hans Beimler, dem die Flucht aus Dachau gelang, hatte bereits 1933 für die Mitwelt aufgeschrieben, was die Nazis dort machten – auch mit den Juden.) Und die Nürnberger Rassengesetze, im Jahr zuvor erlassen? Du Bois berichtet stattdessen aus Bayreuth von seiner Begeisterung für Wagner-Opern. Er stand am Grab des Komponisten, nebenan liegt Chamberlain, der in den Wagner-Clan eingehei­ratet hatte. Auch hier kein kritischer Kommentar.

Erst als er Deutschland verlassen hatte, äußerte Du Bois sich dann doch noch negativ – und zwar deutlich. Die Judenverfolgung »übertrifft an rachsüchtiger Grausamkeit und öffentlicher Herabwürdigung alles, was ich jemals erlebt habe, und ich habe vieles erlebt«, schrieb er. Die Nazis betrieben »planmäßige Propaganda« in einem »Weltkrieg gegen die Juden«. Der Antisemitismus sei mit der Abneigung der Weißen gegen die Schwarzen in den USA überhaupt nicht zu vergleichen. In einer kurzen Skizze zeigt Du Bois, wie die europäischen Juden zunächst in Handel und Geldwirtschaft gedrängt wurden, um später für den Kapitalismus als Sündenbock herhalten zu müssen. »Jedes Unglück in der Welt wird im Ganzen oder zum Teil den Juden angelastet«, so eine andere Formulierung. Sowohl die persönliche Erfahrung als auch die Einschätzung der politischen Situation zeigen, dass die »color line« für Nazi-Deutschland nicht der alleinige Schlüssel zum Verständnis sein kann.

Als Du Bois 1949 ein weiteres Mal nach Europa reiste, war der Kontinent von den Nazis verwüstet. Drei Jahre später hielt er seinen Vortrag »The Negro and the Warsaw Ghetto«, in dem er seine Thesen zur »color line« abermals abschwächte. Der Text erschien in der Text in der Zeit­schrift Jewish Life, er stellt eher eine am Beispiel des Widerstands gewonnene zeitpolitische Intervention dar als eine präzise theoretische Reflexion, wie Jan Gerber in dieser Zeitung ausgeführt hat. Du Bois unterscheidet zwischen Sklaverei, Diaspora, Segregation, Ghettoisierung, Lynchmorden, Pogromen und einem beispiellosen staatlichen und industriellen Völkermord, verübt an den europäischen Juden. Er hielt es zwar für wünschenswert, dass sich alle Opfer von Unterdrückung zusammentun, um eine Welt ohne Unterdrückung zu schaffen, doch das steht auf einem anderen Blatt – nicht dem der historischen und begrifflichen Analyse, sondern dem der politischen Praxis. Die Gründung Israels begrüßte Du Bois enthusiastisch, er hoffte auf einen »schwarzen Zionismus«. Doch zur Konferenz von Bandung 1955, der ersten asiatisch-afrikanische Konferenz, wurde Israel nicht eingeladen, in der Suez-Krise im folgenden Jahr zeigte Du Bois bereits weniger Sympathien für den jüdischen Staat.

Du Bois, der noch im Deutschen Kaiserreich studierte, die Weimarer Republik und den Hitler-Faschismus erlebte, bekam 1958 in der DDR von der inzwischen nach den Brüdern Humboldt benannten Universität die Ehrendoktorwürde verliehen. Sein Einsatz für die globalen Interessen der Arbeiterklasse jenseits der »color line« brachte ihm den Sozialismus nahe. Im McCarthyismus wurde er als linker Intellektueller verfolgt, 1963 gab er seine US-Staatsbürgerschaft auf und wanderte nach Ghana aus, er starb im selben Jahr – einen Tag vor der berühmten »I Have a Dream«-Rede von Martin Luther King Jr. in Washington, D.C. Seine Reisekolumnen von 1936 zeugen zwar von literarischem Stil, sie bleiben trotzdem eher von zeithistorischem Interesse – wie beispielsweise auch Samuel Becketts Notizen aus Deutschland 1936. Dass Du Bois im ideologiekritischen Sinne das Verhältnis von Rassismus- und Antisemitismusanalyse neu bestimmen würde, wäre wohl auch zu viel erwartet gewesen.

Dem neuen Band kommt das unverlierbare Verdienst zu, die Zeitungstexte von Du Bois erstmals auf Deutsch zugänglich zu machen. Im Vorwort wird erläutert, man verzichte auf eine Übersetzung des Wortes »Negro«. Das kann man fraglos so machen, doch bei der Begründung hapert es. Die lautet nämlich, dass es im deutschen Sprachraum keine Intellektuellen afrikanischer Herkunft gegeben habe, die sich die Bezeichnung selbstbewusst angeeignet hätten. Doch das trifft so nicht zu. Hier sei kurz auf den aus Kamerun stammenden Joseph Bilé und seine in Berlin ansässige »Liga zur Vertei­digung der Negerrasse« verwiesen, eine von der Komintern geförderte Vereinigung schwarzer Kommunisten, die sogar mit W. E. B. Du Bois im Austausch stand, aber bereits vor seinem Besuch, im Jahr 1935, aufgelöst wurde.

W. E. B. Du Bois: »Along the color line«. Eine Reise durch Deutschland 1936. Aus dem amerikanischen Englisch von Johanna von Koppenfels. C. H. Beck, München 2022, 168 Seiten, 20 Euro