Über vorgeblich progressive Versuche, öffentliche Debatten zu kontrollieren

Ideologische Aneignung

Auch wenn die Bedrohung der Redefreiheit von rechts schwerer wiegt: Vermeintlich progressive Versuche, darüber zu wachen, wer sich qua seiner Identität wie über welche Themen äußern dürfe, sind nicht nur für die Literatur ein Irrweg. Die Begriffe für diese Versuche eignet man sich meist aus den USA an – wo aber auch scharfe Kritik an ihnen häufiger wird.

»Die gegenwärtige Identitätspolitik zwingt uns widersprüchliche moralische Landkarten auf, die bestimmen, welche Rede für welche Gruppe akzeptabel ist und welche nicht. Zunehmend macht sich ein Klima digitaler Einschüchterung breit, und mit ihm die Angst, frei zu sprechen oder auch nur frei zu denken.« Mit diesen warnenden Worten wandte sich unlängst der Schriftsteller Ayad Akhtar in seiner Funktion als Präsident des Autorenverbands PEN America an die versammelten Mitglieder des PEN Berlin. Erst im Juni als Abspaltung von PEN Deutschland gegründet, stand dessen erster Kongress, der im Festsaal Kreuzberg in Berlin stattfand, ganz im Zeichen Freiheit des Wortes.

Die Rede, die Akhtar zum Abschluss der Versammlung hielt, sorgte bei manchen der Zuhörer aber für Empörung. Nicht ganz unverständlich, war es doch bereits im letzten Diskussionspanel vor seinem Auftritt um die Gefahren von Cancel Culture für Literatur und Presse gegangen. Insofern konnte durchaus der Eindruck entstehen, der PEN Berlin nähme erhebliche Beschränkungen der Pressefreiheit von rechts, wie beispielsweise in Polen oder Ungarn, die tätlichen Angriffe auf Journalisten bei rechten Demonstra­tionen und die bis zu Morddrohungen reichende Hetze gegen linke, schwarze oder queere Autoren weniger ernst als Social-Media-Proteste von Leuten, die dem Wahn verfallen sind, man könne die Welt mittels sprachlicher Selbstzensur und Dauerreflexion von Privilegien zu einem besseren, verletzungsfreien Ort machen. So war es jedoch nicht.

Das ideologische Korsett sitzt hierzulande manchmal noch enger als in den USA.

Zwar hatte Focus-Kolumnist Jan Fleischhauer auf dem genannten Panel seine Paraderolle als rechtskonserva­tiver Sturmtruppler spielen dürfen, indem er den – letztlich erfolglosen – Protest namhafter Rowohlt-Autoren gegen die Veröffentlichung der Auto­biographie Woody Allens (dem sie trotz mehrerer Freisprüche weiterhin Kindesmissbrauch vorwerfen) in »ihrem« Verlag zu einem Terroranschlag auf das freie Wort stilisierte. Aber die als Konterpart geladenen Schriftstellerinnen Manja Präkels und Karen Köhler stiegen auf dieses Thema gar nicht erst ein, und Erstere verlagerte den Fokus sofort auf rechte Angriffe gegen die Redefreiheit, was Fleischhauer zu einer amüsant selbstentlarvenden Verteidigung des rechtsextremen Publizisten Götz Kubitschek verführte.

Zielführender in Sachen Kritik an Cancel Culture als das von Fleischhauer gewählte Beispiel hätte da schon ein Fall sein können, den die Moderatorin Thea Dorn ins Spiel brachte: das Drama »Die Vögel« von Wajdi Mouawad, das vom Münchner Metropoltheater nach Protesten jüdischer Studentenverbände in Bayern abgesetzt wurde. Doch ist es wirklich skandalös, wenn Juden gegen ein Stück protestieren, in dem sie Antisemitismus erkennen? Ist der Skandal nicht eher in der Begründung des Theaters für die Absetzung zu sehen? ­Darin nämlich hieß es, man könne nun verstehen, »warum die kritisierten Textstellen bei manchen Menschen so starke negative Reaktionen hervorrufen können«. Man bedauere die »entstandenen Verletzungen und die empfundene Herabsetzung, die uns sehr leidtun«. Will heißen: Das auch in Israel schon erfolgreich gespielte Stück wurde nicht etwa abgesetzt, weil es eindeutig antisemitisch ist (was ja ein guter Grund gewesen wäre), sondern weil es Leute gibt, die einzelne Passagen so »empfinden« und sich deshalb »verletzt« fühlen. Wie problematisch das ist, wird klar, wenn man sich vorstellt, dass sich ja auch Götz Kubitschek oder Jan Fleischhauer mal von einem Stück »verletzt« oder »herabgesetzt« fühlen und dessen Absetzung mit derselben Begründung fordern könnten, die das Münchner Theater geliefert hat.

Nicht das Schreiben offener Briefe beschädigt die Freiheit des Wortes. Die ist erst in Gefahr, wenn Verlage, Redak­tionen und Theater vor der Wucht, die derlei Proteste heute via Social Media erreichen können, einknicken oder gar vorauseilenden Gehorsam leisten. Wenn also sogenannte Sensibilitätslektoren eingestellt werden, um potentiell konfliktträchtige Themen oder Begriffe aus Manuskripten zu streichen, weil mit ihnen eine böse magische Wirkung verknüpft wird. Oder wenn die Social-Media-Redaktion des ZDF anlässlich der absurden Debatte über Karl May im Sommer dieses Jahres gleich die auf Facebook Kommentierenden zur Verwendung des Begriffs »I-Worts« auffordert, obgleich es sogar Interessenver­tretungen von Native Americans gibt, die das Wort Indian im Namen tragen.

Immerhin, das ZDF hat am Ende davon abgelassen. Das »N-Wort« behält vorerst seine Sonderstellung unter der Vielzahl menschenfeindlicher, herabwürdigender und verletzender Begriffe, die die Sprache so zu bieten hat. Dass manch »sprachsensibler« Lektor es jedoch am liebsten sogar aus der wörtlichen Rede von Nazis (die ja nun mal so sprechen) in literarischen Texten streichen würde, während man umgekehrt Karl May und den auf seinem Werk fußenden Franchise-Produkten wegen mangelnder Authentizität in der Darstellung von Native Americans »Rassismus« und »kulturelle Aneignung« vorwirft, wirkt in sich nicht eben kohärent. Aber Kohärenz ist in jenem vorgeblich antirassistischen Konvolut aus identitätspolitischen Ansätzen wie »kultureller Aneignung«, »Critical Whiteness« und »woker Sprachsensibilität«, welches das Sprechen und Denken inzwischen schon mehrerer Akademikergenerationen prägt, ohnehin Mangelware.

Auch Ayad Akhtars Rede auf dem PEN-Berlin-Kongress haben gerade jene sofort affektiv abgelehnt, die sonst gern predigen, man habe sich gefälligst aufs Zuhören zu beschränken, wenn ein Betroffener spricht. Wären sie dieser Linie hier treu geblieben, hätte ihnen dämmern können, dass ihr »Antirassismus« ironischerweise selbst ein Produkt »kultureller Aneignung« ist – nämlich eines US-amerikanischen Diskurses, der in seinem Herkunftsland inzwischen auch von schwarzen und postmigrantischen Autorinnen und Autoren in ­zunehmendem Maße kritisch gesehen wird, weil er dort längst dazu geführt hat, dass von der »Rasse« (beziehungsweise race) eines Menschen abhängt, ob dieser sich zu einem Thema äußern darf oder nicht.

Eine Sichtweise, die mithin weniger antirassistisch als rassistisch wirkt und deren neue – sehr widersprüchliche – Normen für erwünschtes oder eben nicht erwünschtes Sprechen und Denken, obschon sie von den Universitäten ausgehen, eines mit Sicherheit nicht sind: wissenschaftlich basiert. Um es mit Ayad Akhtar zu sagen: »Es handelt sich dabei um Meinungen, nicht um Wahrheiten. Schlimmer, um Meinungen, die zur Wahrheit erhoben werden. Und damit wird der Boden bereitet für eine gigantische, hoch­emotionale Vermehrung der Desinformation als treibende Kraft der Ge­sellschaft.«

Das sind Worte, die unter woken Antirassisten eigentlich zusätzliches Gewicht erhalten sollten, weil sie nicht von einem um seine Privilegien fürchtenden »alten weißen Mann« kommen, sondern von einem Sohn pakistanischer Einwanderer, der während seiner Jugendjahre im Mittleren Westen der USA sicher einiges an Rassismus und Ausgrenzung erlebt hat. Doch solche Expertise zählt den Gläubigen eben nur dann, wenn sie ins eigene ideologische Korsett passt, und das sitzt hierzulande manchmal noch enger als in den USA.

Akhtars Bühnenstück »Disgraced« jedenfalls, das sich mit der Fragilität und Widersprüchlichkeit kultureller Iden­titätskonstruktionen befasst und 2013 den Pulitzer-Preis erhielt, wurde vier Jahre später in einem Artikel der Zeit »offener Antiislamismus« attestiert, weil darin ein (säkularer) Muslim seine Frau schlägt. Denn so etwas stelle per se ein rassistisches Stereotyp dar, auch, wenn der Autor selbst säkularer Muslim ist.

Grundsätzliche Kritik an einem »Antirassismus«, der unter Diversität nicht Vielfalt, sondern eine Art Setzkasten versteht, in den Menschen nach Hautfarben und kulturellen Hintergründen einzusortieren sind, um sie mit unterschiedlichen Ge- und Verboten zu belegen, wird routiniert weggebügelt. Schnell verweist man darauf, dass der US-amerikanische Begriff race anders zu verstehen sei als das deutsche Wort »Rasse«, nämlich als soziale Kategorie, nicht biologistisch. Wenn hingegen der schwarze US-amerikanische Autor Thomas Chatterton Williams in seinem Buch »Selbstporträt in Schwarz und Weiß« von 2020 beklagt, dass unter Rassisten wie Antirassisten in den USA die Regel gelte, »ein einziger ›Tropfen schwarzen Bluts‹« mache eine Person »schwarz«, »vor allem deshalb, weil sie damit auf keinen Fall ›weiß‹ sein kann«, so klingt das doch reichlich biologistisch.

Aber irgendwie kategorisieren muss man eben, wenn man verhindern will, dass »Weiße« über »Schwarze« schreiben, deren Texte übersetzen oder sich gar kulturelle Formen aneignen, die in plötzlichem Stereotypismus einer an­deren Ras … , pardon: race zugeordnet werden. »Vernebelung durch Ideologien« nannte Akhtar das in seiner Rede beim PEN Berlin, man könnte es auch Pippilangstrumpfisierung des Denkens nennen. Diese ist zwar (da haben die Kritiker recht) hierzulande derzeit deutlich weniger bedrohlich für die Redefreiheit als rechtsextreme Angriffe oder Morddrohungen. Im Kontext »kultureller Aneignung« birgt der identitätspolitische Ideologieimport jedoch mit Sicherheit größere Gefahren für ein respektvoll-friedfertiges Miteinander als weiße Reggae-Musiker mit Dreadlocks.