Vielen postsowjetischen Staaten dient einst von ihrer Hauptethnie erlittene Gewalt als Gründungsmythos

Die Nation als Opfer

In der Ukraine fiel das wachsende Bestreben, den sogenannten Holodomor als Völkermord einzustufen, mit dem Streben nach Unabhängigkeit von Russland zusammen. In zahlreichen ehemals sowjetischen Nationalstaaten dient die Erinnerung an historische Traumata der Schaffung nationaler Gründungsmythen.

Am 30. November verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Regierungsparteien und der CDU/CSU einen Antrag, der die Bundesregierung auf­fordert, die Erinnerung an den sogenannten Holodomor zu unterstützen, die Hungersnot, der in den Jahren 1932 und 1933 in der Ukraine mehrere Milli­onen Menschen zum Opfer fielen. Der Antrag umreißt grob die Geschichte dieser Hungersnot und des Umgangs mit ihr und gipfelt in der Feststellung: »Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung.«

Diese relativ vorsichtige Formulierung dürfte daher rühren, dass in der internationalen Geschichtswissenschaft keinesfalls Konsens über die Frage herrscht, ob die sowjetische Führung die Maßnahmen, die zur Hungersnot führten, mit der Absicht beschloss, neben der Bauernschaft und den »Peripherien des sowjetischen Herrschafts­projektes« die »ukrainische Lebensweise, Sprache und Kultur« zu unterdrücken, wie es in der Resolution heißt. Es bleibt umstritten, ob der Holodomor gezielt eingesetzt wurde, um die ukrainische Nation zu zerstören. Stattdessen wird er auch als Resultat des Aufeinandertreffens einer brutalen und repressiven Modernisierungs- und Industrialisierungspolitik mit agrar­politischen Fehlentscheidungen und ungünstigen Umweltfaktoren inter­pretiert.

Der südkoreanische Historiker Jie-Hyun Lim prägte den Begriff des »Opferschaftsnationalismus«: Nationale Gemeinschaft werde über ein historisch erfahrenes Trauma hergestellt.

Trotz dieser Zurückhaltung bestätigt der Beschluss des Bundestags ein Geschichtsbild, wonach Repressionen der Stalin-Ära nichtrussische Nationalitäten innerhalb der Sowjetunion zerstören sollten. In ehemals sowjetischen Staaten wird der Terminus des Genozids beziehungsweise des Völkermords zumeist verwendet, um einen gewalttätigen, auf Auslöschung zielenden Angriff auf die ethnisch und kulturell bestimmte Basis einer Nation zu bezeichnen.

Eine derartige Bewertung des Holodomor war nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 auch dort umstritten und Gegenstand politischer Auseinander­setzungen; sie wurde jedoch unter dem Eindruck der sich verschärfenden Auseinandersetzung mit Russland in den vergangenen Jahren hegemonial. Das Bemühen, eine derartige Deutung der Gewaltgeschichte der Sowjetunion als verbindlich durchzusetzen, findet sich nicht nur in der Ukraine. Am ausgeprägtesten ist diese Form der Geschichts­politik in den baltischen Staaten, wo die Deportation vieler Menschen nach ­Sibirien 1940 staatlicherseits als Genozid bewertet wird.

Eine Tendenz, sich darauf zu berufen, dass an der jeweils eigenen Nation ein Völkermord verübt worden sei, lässt sich in fast allen bewaffneten Konflikten in und zwischen den postsowjetischen Staaten beobachten. Sie beschränkt sich auch nicht auf die frühe Geschichte der Sowjetunion. So werden in Armenien die aserbaidschanischen Pogrome gegen Armenier 1988 als Genozid angesehen, während Aserbaidschan armenische Kriegsverbrechen im ersten Krieg um Bergkarabach 1992 als solchen bewertet. Und im Fall des Kriegs Anfang der neunziger Jahre in der von Georgien abgespaltenen, international nicht anerkannten Republik Abchasien bezeichnen beide Seiten die Gewalt­taten der jeweils anderen als Genozid. Auch was die vorsowjetische russische Geschichte angeht, wird der Begriff Genozid bemüht. Seit Beginn der nuller Jahre werben tscherkessische Organisationen dafür, die gewaltsame Vertreibung der Tscherkessen ins Osmanische Reich nach der russischen Eroberung des Nordkaukasus 1864 international als Genozid anzuerkennen.

Im Fall der Ukraine werfen die Sepa­ra­tist:­innen im Donbass und russische Politiker:innen der ukrainischen Seite vor, durch Sprachpolitik und den ­Beschuss von Städten im Donbass seit 2014 einen Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine zu verüben. Umgekehrt bezeichnen ukrainischen Politiker:innen und Pu­bli­zist:innen Repressalien gegen die tatarische Bevölkerung der von Russland ­annektierten Krim als Genozid an den Krimtataren, auch der Angriffskrieg Russlands wird als genozidal dargestellt.

Die Kategorisierung historischer und gegenwärtiger Gewalt als Genozid gegen die jeweils eigene Nation ist also ein zentraler Bestandteil der meisten postsowjetischen Nationalismen. Das ist jedoch keine regionale Besonderheit. Tatsächlich schlägt sich hier nur, wenn auch in ausgeprägter Form, eine globale geschichtspolitische Entwicklung nieder. Im 19. und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Darstellung der mit Nationenbildungsprozessen einhergehenden Gewalt, beziehungsweise der Gewalt zwischen verschiedenen Nationalstaaten, von der Idee heroischer Aufopferung der Individuen für die Nation geprägt. Die Protagonisten dieser Geschichten wählten den Kampf für die nationale Sache und gingen in ihm auf.

Seit den sechziger Jahren, und beschleunigt seit den neunziger Jahren, lässt sich feststellen, dass Geschichten, die die eigenständige Existenz von Nationen legitimieren sollen, nicht mehr vorrangig auf den heldenhaften Kampf von Einzelnen oder von Gruppen gegründet werden. Stattdessen basieren sie darauf, dass diese Nationen in der Vergangenheit unschuldiges Opfer fremder Aggression geworden seien. Der südkoreanische Historiker Jie-­Hyun Lim prägte dafür in den nuller Jahren in Auseinandersetzung mit Entwicklungen in Europa und Asien den Begriff des »Opferschaftsnationalismus« (victimhood nationalism): Nationale Gemeinschaft werde über die proklamierte kollektive Unschuld und ein historisch erfahrenes Trauma hergestellt, das für kollektiv und erblich erklärt wird. Der Übergang zum Opferschaftsnationalismus ist Lim zufolge ein Resultat globalisierter erinnerungspolitischer Diskurse, in denen die Berufung auf einen Opferstatus eher geeignet ist, Zustimmung und Sympathie zu erwecken, als ein heroisches Geschichtsbild.

Das lässt sich gut am Beispiel der Ukraine zeigen. Die Verehrung der nationalistischen Kämpfer der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) als Unabhängigkeitskämpfer in der heutigen Ukraine ist eine typische Form des auf der Idee heroischer Aufopferung beruhenden Nationalismus. Dieser kollidiert jedoch aufgrund des Massenmordes der UPA an der jüdischen und polnischen Bevölkerung der Ukraine mit polnischen und jüdischen Geschichtsbildern. In der jetzigen Situation, da die Ukraine auf wirtschaftliche und mili­tärische Hilfe aus Polen und Israel angewiesen ist, ist das ein Problem.

Eine wichtige Rolle für die globale Verbreitung des Opferschaftsnationa­lismus spielte die Erinnerung an die Shoah, wie sie sich seit den siebziger Jahren etabliert hat: In ihrer opferzentrierten und zugleich verallgemeinernden Form wurde sie zur globalen Blaupause für die Erinnerung an historische Menschheitsverbrechen. Die Legitimität, die Israel aus der Geschichte der Verfolgung der Juden ableitet, wurde zum Vorbild insbesondere für nationale Bewegungen, die ab 1990 unabhängige Staaten errichteten. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist die für Nationalismen konstitutive Abgrenzung des eigenen Kollektivs vom »Anderen« aufgrund einer langen gemeinsamen Geschichte oft schwierig. Zudem gibt es in allen postsowjetischen Ländern nicht geringe Bevölkerungsteile, denen es in den siebziger und achtziger Jahren besser ging als nach der Unabhängigkeit. Unter diesen Bedingungen erleichtert die moralisch aufgeladene Behauptung, die eigene Gruppe sei kollektives Opfer einer anderen, kollektiv schuldig gewordenen Gruppe, wobei Täter und Opfer säuberlich ethnisch voneinander geschieden werden könnten, die Abgrenzung des eigenen vom fremden nationalen Kollektiv. In den nichtrussischen Republiken lässt sich zudem die nationale Unabhängigkeit, auch wo sie Hoffnungen auf Wohlstand und Prosperität nicht erfüllte, auf diese Weise zumindest als Herstellung historischer Gerechtigkeit darstellen.

Das Ergebnis ist eine ethnisierte Geschichtsschreibung, die den historischen Ereignissen oft nicht gerecht wird. Sie ist geprägt von Mechanismen, die Lim als Dekontextualisierung, Überkontextualisierung und Sakralisierung beschreibt. Bei der Dekontextualisierung wird, um die eigene Nation als unschuldiges Opfer fremder Aggressionen erscheinen zu lassen, deren Beitrag zur Eskalation von Gewalt geleugnet, so beispielsweise im Fall der Kriege in Abchasien und Bergkarabach. Überkontextualisierung liegt vor, wenn Gewalt von Angehörigen der eigenen Nation durch die historischen Umstände entschuldigt werden soll, etwa wenn im Baltikum die Beteiligung litauischer Nationalisten an der Shoah damit ­gerechtfertigt wird, dass zuvor jüdische NKWD-Offiziere Litauer:innen nach ­Sibirien deportiert hätten. Sakralisierung beschreibt den Ausschluss von kritischen Außenseitern aus der Diskussion der Geschichte eines Kollektivs. So wird Ausländer:innen oft entgegengehalten, sie könnten aufgrund ihrer Nichtzugehörigkeit die Geschichte der Nation niemals richtig verstehen. Gleichzeitig wird inländischen Kritiker:i­nnen schnell Verrat an der nationalen Sache vorgeworfen und ihre »wahre« Zugehörigkeit in Frage gestellt. Derart ideologisiert wird aus dem Erinnern an die Opfer historischer Gewalt eine Ressource nationaler Mobilisierung – und damit, wie die vergangenen Jahrzehnte im postsowjetischen Raum zeigen, potentiell eine Quelle neuen Leids.