23.02.2023
Beim Gedenken an die nationalsozialistisch Verfolgten verbietet sich Opferkonkurrenz

Ungleiche Opfer

Anhand des NS-Arbeitsbegriffs und der Struktur von Auschwitz lassen sich die unterschiedlichen Verfolgungs- und Vernichtungsinteressen der Nazis analysieren.

Der Bundestag stellte in der diesjährigen Gedenkstunde am 27. Januar Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Iden­tität vom Nationalsozialismus verfolgt wurden, in den Mittelpunkt. Seit 1996 begeht Deutschland am Tag der Befreiung der Konzentrationslager Auschwitz, dem 27. Januar, den »Tag des Gedenkens an die Opfer des National­sozialismus«. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog sprach davon, dass es an diesem Tag darum gehe, der Millionen zu gedenken, »die durch das nationalsozialistische Regime entrechtet, verfolgt, gequält oder ermordet wurden«. In den sozialen Medien wurde dieses Jahr zu Recht kritisiert, dass die Anerkennung von schwarzen und queeren Opfern des Nationalsozi­alismus ein längst überfälliger Schritt sei. Die Kritiker:innen spielten ihr Anliegen teils aber gegen das Gedenken an die jüdischen Opfer aus.

Heutzutage an die Verbrechen der Deutschen zu erinnern, bedeutet immer auch, die Vielfalt des Hasses und der Verfolgungsgeschichten sortieren zu müssen. Die Nazis waren von der Ungleichartigkeit von »Rassen« überzeugt und setzten die von ihnen entworfene »Rassenhierarchie« brutal um. Wirft man all diese verschiedenartigen Verfolgungsgeschichten in einen Topf und ebnet ihre Unterschiede ein, wird die Besonderheit des eliminatorischen Antisemitismus verkannt. Das Beharren auf der Differenz hingegen kann es begünstigen, verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen und nur an einige zu erinnern. Dabei sollte sich jede Form der Opferkonkurrenz eigentlich verbieten. Alle Verfolgten des Nationalsozialismus mussten ihre Anerkennung hart erkämpfen.

Hitler sagte, »die Juden« würden aus Eigennutz nur in ihre eigene Tasche arbeiten, während sich »die Deutschen« durch ihr gemein­nütziges Arbeiten auszeichneten.

Anhand des nationalsozialistischen Arbeitsbegriffs lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Opfergruppen beispielhaft herausarbeiten. Der Antisemitismus bildete von Anfang an den Kern der nationalsozialistischen Ideologie. Schon im August 1920 sprach Hitler in einer Rede in München davon, dass »der Jude« der Vertreter der »Gegenrasse« und das Übel in der Welt sei. Aus dieser Wahnvorstellung speisen sich die antisemitischen Vernichtungsphantasien. Antisemiten glauben, um die Welt vom Bösen zu befreien, müssen »die Juden« verschwinden. Deshalb spricht der Shoah-Forscher Saul Friedländer auch vom Erlösungsantisemitismus.

Hitler entwickelte in seiner frühen Münchner Rede seine Vorstellung von Arbeit auf Grundlage seines Antisemitismus. »Die Juden« würden aus Eigennutz nur in ihre eigene Tasche ar­beiten, während sich »die Deutschen« durch ihr gemeinnütziges Arbeiten auszeichneten. Ihre Arbeit sei ein Dienst an der Volksgemeinschaft. Die jüdische »Nicht-Arbeit« imaginierten die Nationalsozialisten als korrumpierend und zersetzend – und damit als gefährlich. Diese Ideologie führte dazu, dass Jüdinnen und Juden in Konzentrationslagern, sofern sie nicht unmittelbar nach der Ankunft umgebracht wurden, zur »Vernichtung durch Arbeit« herangezogen wurden.

Noch im Sommer 1944 – der Krieg war längst nicht mehr zu gewinnen – wurden Jüdinnen und Juden von den griechischen Inseln Rhodos und Kos quer durch Europa bis nach Auschwitz deportiert, um sie dort zu ermorden. Der ­Antisemitismus forderte die Vernichtung und stand über allen militärischen Zielen, denen man somit wichtige Ressourcen entzog. Die Shoah ist damit präzedenzlos. Sybille Steinbacher, die Leiterin des Fritz-Bauer-Instituts, sieht diese Präzedenzlosigkeit im »unbedingten Vernichtungswillen«, in der »Systematik des Mordprogramms« und darin, dass die Deutschen in ihrer Gesamtheit eingebunden waren oder davon wussten.

Das antisemitische Fremdbild und das nationalsozialistische Selbstbild sind zwei Seiten einer Medaille. Ideologisch werden diese absoluten Gegensätze mit rassistischen, antiziganistischen und sozialchauvinistischen Fremdbildern verbunden. Das setzten die Nazis in den Konzentrationslagern auch praktisch um. Zur »Vernichtung durch Arbeit« kam für andere Gruppen Zwangsarbeit und »Erziehung durch Arbeit« hinzu, zum Tod die Unfreiheit. Was die einen umbringen sollte, sollte andere unterwerfen oder erziehen.

Der Antiziganismus ergänzt den Antisemitismus. Während Juden als Vertreter der Moderne imaginiert werden, die ein Leben in Reichtum ohne Arbeit führen, repräsentierten Sinti:zze und Rom:nja für die Nazis eine vormo­derne Arbeitswelt; sie lebten angeblich ohne die Restriktionen der Arbeit. So galt auch ihre Nicht-Arbeit als gefährlich. Schätzungen gehen von 500 000 im Porajmos (Romanes für »Verschlingen«) Ermordeten aus.

Wer als »rassisch minderwertig« galt, wurde zu Zwangsarbeit verdammt. Die Nazis verschleppten etwa 20 Millionen Menschen aus den »besetzten Gebieten« in ihr »Reich«, damit sie Zwangsarbeit verrichteten. Neben der sogenannten zivilen Zwangsarbeit prägte diese auch den Alltag in Konzentrationslagern.

Weil die »deutsche Arbeit« ein Dienst an der Volksgemeinschaft sein sollte, verfolgten die Nazis auch jene innerhalb der eigenen »Volksgemeinschaft«, die sich dieser angeblich entzogen: Bettelnde und Obdachlose beispielsweise, denen sie »Asozialität« oder »Arbeitsscheu« attestierten. Sie sollten eingesperrt und durch Arbeit »erzogen« werden. An ihnen wollten die Nationalsozialisten sowohl ein Exempel statuieren als auch die Verweigerung bestrafen. Dieser Sozialchauvinismus war Teil des nationalsozialistischen Versuchs, die Nicht-Arbeit abzuschaffen.

Die verschiedenen Varianten oder Zwecke von Zwangsarbeit wurden in Auschwitz gleichzeitig umgesetzt. Der Konzentrationslagerkomplex von ­Auschwitz setzte sich aus einer Verbindung von mehreren Konzentrationslagern mit dem Vernichtungslager Birkenau zusammen. Hier wurden Millionen eingesperrt, gequält, zu Arbeit gezwungen und ermordet. Über eine ­Million Jüdinnen und Juden wurden hier systematisch vernichtet. Das zeitliche und örtliche Nebeneinander dieser Verbrechen macht es möglich, unterschiedliche Verfolgungsgeschichten zusammenzudenken, ohne den eliminatorischen Antisemitismus aus den Augen zu verlieren. Er war der zentrale Antrieb, der Auschwitz schuf.

Für die systematische Ermordung der europäischen Juden gab es lange keinen Namen. Adorno schrieb deshalb von Auschwitz, um das Unsagbare zu benennen. Im Januar 1979 wurde in Deutschland die US-amerikanische ­Serie »Holocaust« ausgestrahlt und mit ihr verbreitete sich dieser Begriff, der im antiken Griechenland Brandopfer bedeutete. Die Serie erzählt die Geschichte der jüdischen Familie Weiss, deren Angehörige im Laufe der fast achtstündigen Serie dem Holocaust zum Opfer fallen, bei Massenerschießungen in Babyn Jar, der Aktion T4 oder in den Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt. Mit Claude Lanzmanns Opus magnum wurde schließlich der Begriff Shoah geläufig, der im Hebräischen Katastrophe bedeutet. Shoah wird heutzutage ausschließlich die Ermordung der europäischen Juden genannt, während der Begriff Holocaust immer wieder auch ausgeweitet auf andere Opfer des Nationalsozialismus genutzt wird und von Tierrechtsgruppen bis Coronaleugner:innen seines historischen Kontexts entledigt, ins­trumentalisiert und relativiert wird. In den diesjährigen Debatten wurden bisweilen queere und schwarze Opfer des Nationalsozialismus gegen die jüdischen ausgespielt, gerade so als bringe das Erinnern an die einen das Vergessen der anderen mit sich.

Der Lagerkommandant Rudolf Höß schrieb in seinen in Haft verfassten Memoiren über Auschwitz von der »größten Menschen-Vernichtungs-Anlage aller Zeiten«. Denn in Birkenau zeigt sich der Zweck von Auschwitz: die Vernichtung von Jüdinnen und Juden. Mit dem von Adorno benutzten Begriff Auschwitz wie dem später geläufigen Begriff Holocaust kann die Präzedenzlosigkeit dieser Vernichtung benannt werden, ohne deren Gleichzeitigkeit mit anderen schrecklichen Verfolgungsgeschichten zu ignorieren. Entsprechend der Vernichtungs- oder Zwangsstrukturen in Auschwitz lassen sich mit Auschwitz als Symbol alle Schicksale gemeinsam fassen. Faktisch geht aber die derzeitige Debatte um die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und das Gedenken an sie mit Opferkonkurrenzen und Angriffen auf die sogenannte Singularitätsthese einher.

Dirk Moses, der radikalste Gegner der Singularitätsthese, diffamiert diese als »deutschen Katechismus«. Und verschweigt dabei, dass das heutige Gedenken gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft erkämpft worden ist, und das vielfach von Jüdinnen und Juden selbst. Sicherlich – gegen den Mythos von Deutschland als Aufarbeitungsweltmeister sind solidarische Allianzen zwischen den damals Verfolgten dringend notwendig. Dabei ist es aber wichtig, die Ideologie des Nationalsozialismus adäquat zu analysieren. Wer den Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus einebnet, kann Auschwitz nicht begreifen, ist nicht fähig, jüdische Perspektiven angemessen zu sehen und empathisch über die einzige Schutzmacht von Jüdinnen und Juden, Israel, nachzudenken.

Am diesjährigen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus entbrannte ein Streit über den Stellenwert des Gedenkens an ­schwarze und queere Verfolgte. Die Kritik, dass deren Verfolgungsschicksale in der deutschen ­Öffentlichkeit zu wenig beachtet würden, lief teilweise auf eine Opferkonkurrenz mit den vernichteten Juden hinaus.