Der Yorkshire County Cricket Club (CCC) taumelt von einem Rassismusskandal zum nächsten

Skandal im Cricket

Der ehemalige Profisportler Azeem Rafiq hat als Whistle­blower den strukturellen Rassismus im Cricket offengelegt – und damit viel erreicht.

Seit zweieinhalb Jahren taumelt der Yorkshire County Cricket Club (CCC), immer noch der erfolgreichste englische Cricket-Club in der traditionellen Spielweise mit mehrtägigen Matches (first-class cricket), von einem Rassismusskandal in den nächsten: Kaum ein Monat vergeht ohne neuerliche Enthüllungen.

Diese Dauerkrise hat der Whistle­blower und ehemalige Cricket-Profi Azeem Rafiq ausgelöst, der beim Yorkshire CCC systemischen Rassismus und Mobbing beklagte – ein Klima weißer englischer Überheblichkeit, das ihn an den Rand eines Suizids getrieben habe. Mittlerweile sind viele Vorwürfe bestätigt. Unzählige Verdrängungs- und Vertuschungsversuche später ist umso klarer, was der Yorkshire CCC lautstark abstritt: dass es sich um ein strukturelles Problem handelt. Jetzt kam heraus, dass der 1863 gegründete Traditionsclub wichtige Dokumente von Laptops und Servern gelöscht hatte.

Azeem Rafiq hätte eine große Laufbahn im Cricket haben können. Der 1991 im pakistanischen Karachi geborene Athlet kam im Alter von zehn Jahren nach England und erwies sich schnell als großes Talent. 2006 war Rafiq Kapitän des englischen U15-Teams, 2008 debütierte er mit nur 17 Jahren für die Grafschaft Yorkshire in einem Spiel. Es folgte die U19-WM, ebenfalls als Kapitän eines hochtalentierten Teams, und ab 2012 das Kapitänsamt beim Yorkshire CCC. Rafiq wurde jüngster Amtsträger der Landesgeschichte und der erste asiatischstämmige Athlet, dem diese Ehre zuteilwurde. Dann aber verhinderten eine Reihe von Knieverletzungen die ganz große Karriere.

Und vor allem eines, so sieht es Azeem Rafiq heutzutage, zerstörte seine Ambitionen: Rassismus. Im September 2020, zwei Jahre nach Ende seiner Zeit beim Yorkshire CCC, sprach das erste Mal öffentlich über eine jahrelange Tortur rassistischer Beleidigungen. »Ich weiß, wie nahe ich während meiner Zeit in Yorkshire dem Selbstmord war«, erzählte er der Website ESPN Cricinfo. Er »hatte Angst, zur Arbeit zu gehen«. Der Rassismus bei Yorkshire sei »tief verwurzelt«.

Schon diese ersten öffentlichen Äußerungen waren ungewöhnlich in der Welt des Sports, in der es kaum je ein Mann wagt, offen über Gefühle, Tränen oder gar Selbstmordgedanken zu sprechen. Und erst recht gibt es kaum Athleten und Athletinnen, die ihren ehemaligen Club so klar öffentlich des Rassismus zeihen.

Azeem Rafiq muss gewusst haben, was auf dem Spiel stand: Er riskierte, den Rest seines Lebens aus dieser ­Jeder-kennt-jeden-Branche als Nestbeschmutzer ausgeschlossen zu werden. Und doch hat Rafiq in den vergangenen beiden Jahren in Anhörungen detailliert berichtet, was er im englischen Cricket erlebt hat – und weder ehemalige Teamkollegen noch große Namen geschont.

Ein Muster aus dem organisierten Sport wiederholt sich im Fall Rafiq: Abwiegeln und Schweigen.

Schon als Teenager, berichtete Rafiq in einer emotionalen Anhörung vor dem britischen Parlament, habe die Quälerei begonnen. »Ich wurde festgehalten und mir wurde Rotwein wortwörtlich die Kehle hinuntergeschüttet«, so der Muslim über Teamkameraden. Das Wort Paki, im Englischen eine rassistische Verunglimpfung, sei im Cricket alltäglich, was auch andere Betroffene bestätigten. »Und innerhalb der Organisation schienen die Führungskräfte das einfach zu akzeptieren und niemand ist dagegen vorgegangen.«

Azeem Rafiq präsentierte zahllose konkrete Beispiele für tägliches Mobbing: »Hier sind zu viele von euch«, »Ihr sitzt neben den Toiletten«, »Elefantenwäscher«. Sein Teamkollege Gary Ballance habe das Wort »Kevin« für alle nichtweißen Spieler genutzt. Daraufhin habe Nationalspieler Alex Hales seinen schwarzen Hund »Kevin« genannt. Letzterer bestreitet den Vorwurf.

Ein Muster aus dem organisierten Sport wiederholt sich im Fall Rafiq: Abwiegeln und Schweigen. Zuerst hatte der Whistleblower seine Vorwürfe 2018 intern zu Papier gebracht. Offenbar reagierte niemand. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe schienen die Reaktionen zunächst positiv: Der englische Verband England and Wales Cricket Board (ECB) dankte Rafiq für die Offenheit, Yorkshire veranlasste eine interne Untersuchung.

Doch tatsächlich versuchte der Club, diese Untersuchung zu behindern, wo es nur ging: Der Untersuchungsbericht wurde immer weiter verzögert, eine halbherzige Entschuldigung für das Leid folgte erst ein Jahr später. Zwar habe es »unakzeptables Verhalten« gegeben; aber »viele der Anschuldigungen konnten nicht aufrechterhalten werden, für andere gab es unzureichende Beweise«, so Yorkshire. Der Club sah auch keinen Anlass, Spieler oder Offizielle zu bestrafen. Diese ­Ignoranz allerdings fiel Yorkshire heftig auf die Füße, als der Untersuchungsbericht an die Öffentlichkeit gelangte, in dem beispielsweise Gary Ballance zugab, das Wort Paki benutzt zu haben – angeblich in freundschaftlichem Scherz.

Vielleicht ist es ein Glück in diesem Fall, dass der Whistleblower so prominent und unnachgiebig ist. Anders als in ähnlich gelagerten Skandalen gelang es Yorkshire CCC nicht, die Angelegenheit mit ein paar Entlassungen und Einschüchterungen zu beenden. Es geschah tatsächlich etwas. Mittlerweile hat das ECB einen mit 25 Millionen Pfund finanzierten 12-Punkte-Plan gegen Rassismus erlassen und eine Antidiskriminierungseinheit gegründet, bei Yorkshire wurde eine anonyme Whistle­blowing-Hotline eingeführt.

Das englische Cricket muss regelmäßig Fortschritte im Kampf gegen den Rassismus vorweisen, ansonsten verliert es öffentliche Gelder. Die Politik mischte sich ein. Auch Rafiq glaubt, dass sich etwas bewegt.

Yorkshire CCC hat zwar mittlerweile in der verbandsinternen Untersuchung auf schuldig plädiert. Von den beschuldigten Spielern dürfte allerdings fast keiner zum Verfahren der Cricket-Disziplinarkommission im März auftauchen; sie behaupten, sie würden dort keine faire Anhörung erhalten. Tim Bresnan zum Beispiel streitet vehement ab, rassistische Schimpfwörter benutzt zu haben, und beschuldigt das ECB, sich bei Rafiq »anzubiedern« und entlas­tendes Material zurückzuhalten. Rafiqs Anschuldigungen seien »gut einstudiert« und die ganze Ermittlung ein »Zirkus«.

»Rassendenken kann so sehr als Cricket-Tradition gesehen werden wie Tee und Gurkensandwiches.« Michael Collins, Historiker

Die Schuld Einzelner bleibt schwer zu klären, da es oft keine Zeugen oder Zeuginnen gibt und Aussage gegen Aussage steht. Nur der ehemalige Kapitän der englischen Cricket-Nationalmannschaft, Michael Vaughan, hat sein Erscheinen angekündigt; auch er bestreitet die Vorwürfe. Und einer seiner Nachfolger, Joe Root, der von 2009 bis 2018 für Yorkshire spielte, besteht öffentlich darauf, nie etwas von Rassismus beim Club mitbekommen zu haben, räumt aber immerhin ein, noch lernen zu ­müssen.

Azeem Rafiq hat daraus seine Lehren gezogen. Zwar könne es sein, dass sich Joe Root nicht mehr an solche Situationen erinnern könne, aber das zeige »nur, wie normal es war in diesem Umfeld, in dieser In­stitution, dass die Leute sich nicht mal daran erinnern. Aber es ist etwas, woran ich mich erinnere, ­jeden Tag.«

Es fällt leicht, sich über die diskriminierende Sprache zu echauffieren. Doch der Rassismus im Cricket wurzelt tiefer. Der britische Historiker Michael Collins analysiert in The Political Quarterly, wie eng die Sportart mit dem britischen Imperialismus verflochten sei. »Die komplexe Beziehung von Cricket zum Englischsein und sein Rassendenken stellen den Sport heute vor besondere Pro­bleme. Während der Kolonialzeit war Cricket ein Spiel, das Englands viele nichtweiße, kolonisierte ›Andere‹ spielen durften, aber immer innerhalb einer Hierarchie, in der der weiße Engländer überlegen war und das nichtweiße, kolonisierte Subjekt unterlegen.«

Cricket habe immer als »imperiales Spiel« funktioniert, »England und das Englischsein waren immer sein Kern und der Standard, an dem alle anderen gemessen wurden«. Nicht zuletzt die Tatsache, dass Cricket immer noch vor allem in ehemaligen Kolonien verbreitet ist, schafft eine Illusion von anhaltendem Empire-Glanz. Der Sportwissenschaftler Dominic Malcolm beobachtet etwa Parallelen zwischen der Cricket-Mentalität und der dem EU-Austritt zugrunde liegenden Idee einer erneuerten, neoimperialen Anglosphere.

In der Nachkriegszeit, so erklärt Historiker Michael Collins, habe man sich zunächst noch gönnerhaft aus der Distanz über erfolgreiche Cricketspieler aus dem asiatischen Raum gefreut. Das habe sich in den sechziger und siebziger Jahren geändert, als das Empire endgültig verschwand und die Angst vor Gleichberechtigung der Einwanderer wuchs. Erfolgreiche nichtweiße Cricketspieler galten nun als Bedrohung des Englischseins, als aggressiv oder nicht assimiliert genug. Collins resümiert: »Diejenigen, die glauben möchten, dass sich Rassismus nur in groben, vulgären Beleidigungen oder Gewalttaten zeige, verstehen das Problem falsch. Rassendenken kann so sehr als Cricket-Tradition gesehen werden wie Tee und Gurkensand­wiches.«