Die Mitarbeiter des russischen Online-Handels Wildberries streiken

Reif für den Arbeitskampf

Die Belegschaft des russischen Online-Versandhandels Wildberries wehrt sich gegen ein System von Geldstrafen. Die spontanen Streiks haben zur Gründung von Arbeitervertretungen geführt.

Dass in Zeiten der »militärischen Spezialoperation«, wie russische Medien den Krieg gegen die Ukraine nach wie vor bezeichnen müssen, ein Arbeitskampf in die russischen Nachrichten gelangt, ist außergewöhnlich. Meist wird über Lohnkonflikte höchstens in lokalen Medien berichtet. Doch als am 14. März Dutzende Filialen des größten Online-Versandhandels des Landes, Wildberries, schließen mussten, weil die Beschäftigten die Arbeit nieder­gelegt hatten, berichteten darüber sowohl oppositionelle als auch regierungstreue Medien. In Moskau, Sankt Petersburg, Jekaterinburg, Wladiwostok, Barnaul und weiteren Großstädten standen Kunden vor den verschlossenen Türen von Wildberries-Abholstationen. Die Beschäftigten hatten Schilder mit Botschaften wie »Geschlossen wegen Streik«, »Wir sind nicht bereit, umsonst zu arbeiten« und »Uns zahlt man keinen Lohn« angebracht.

Wildberries ist ein Versandhandelsunternehmen, die meisten der verkauften Waren werden den Kunden nach Hause geliefert. Auslöser des Streiks war ein Anfang März eingeführtes System von Geldbußen: Das Unternehmen forderte von Mitarbeitern, dass diese den Preis von durch Kunden reklamierten Waren erstatten, wenn ein falsches oder defektes Produkt ausgehändigt worden war. Das führte bei einigen zu einer Anhäufung von Forderungen in Höhe von umgerechnet über 1 000 Euro. Schnell verabredeten sich Wildberries-Beschäftigte im ganzen Land per Telegram zu einem spontanen Streik.

Das 2004 gegründete Unternehmen beschäftigt rund 48 000 Mitarbeiter. Geliefert wird nicht nur innerhalb Russlands, sondern auch in über einem Dutzend anderer Länder von Armenien bis Israel. Im Pandemiejahr 2020 wuchs der Umsatz von Wildberries um 96 Prozent auf über 437 Milliarden ­Rubel (umgerechnet Anfang April knapp 5,2 Milliarden Euro) jährlich. Die 1975 in Moskau in eine koreanischstämmige Familie geborene Gründerin und Inhaberin des Unternehmens, Tatjana Bakaltschuk, ist dem Magazin Forbes zufolge die reichste Frau Russlands – ihr Vermögen soll über 2,1 Milliarden US-Dollar betragen. Im vergangenen Jahr verhängte die Ukraine Sanktionen gegen sie. Die Ukraine wirft Bakaltschuks Unternehmen den Vertrieb von Kleidung mit Symbolik der russischen Streitkräfte und Wladimir Putins Konterfei sowie von »ukrainefeindliche(r) Literatur« vor.

Zu Bakaltschuks Managementstil gehört es, den Wettbewerb unter ihren Beschäftigten zu befeuern. Diese gelten zu großen Teilen nicht als Angestellte, sondern betreiben die Ausgabepunkte und Verteilstationen als Franchises, deren Geschäftsführer sie sind und die sie teilweise sogar besitzen. Dadurch sind sie nicht durch Arbeitsschutzgesetze geschützt. Nach zweieinhalb Streiktagen »deaktivierte« Wildberries 15 Ausgabepunkte, kündigte also die Geschäftsbeziehung mit deren Betreibern. Gleichzeitig strich das Unternehmen 10 000 der umstrittenen Geldbußen. Doch die Beschäftigten beschwerten sich, dass diese Streichungen nur einigen Mitarbeitern zugute kamen.

Zum Managementstil der Inhaberin von Wildberries gehört es, den Wettbewerb unter den Beschäftigten zu befeuern.

Nachdem zwischen den Streikenden Konflikte über die Strategie im Arbeitskampf ausgebrochen und drei unterschiedliche Telegram-Gruppen gegründet worden waren, um die Aktionen zu koordinieren, verkündete eine der Fraktionen die Gründung einer Gewerkschaft namens Prawda Sotrudnikow (Wahrheit der Mitarbeiter). Die Mitgliedszahlen sind nicht bekannt, die gleichnamige öffentliche Telegram-Gruppe zählt rund 8 500 Abonnenten. Ende März berichteten Medien, dass hinter der Gewerkschaftsgründung von Prawda Sotrudnikow die linken Organisationen Plattform der Solidarität und Union der Marxisten stünden. Beide Gruppen arbeiten mit der Konfö­deration der Arbeit (KTR) zusammen, dem zweitgrößten Gewerkschaftsdachverband Russlands.

Der Arbeitskonflikt bei Wildberries zog auch die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich. Der Minister für Arbeit und Soziales, Anton Kotjakow, ermahnte das Unternehmen, sich an die Gesetze zu halten. Zwei Abgeordnete der linksnationalistischen Partei Gerechtes Russland – Patrioten – Für die Wahrheit, Dmitrij Gussew und Walerij Gartung, luden die Konfliktparteien zu einem Runden Tisch in die Staatsduma ein, jedoch waren lediglich die Eigentümer der Franchise-Ausgabepunkte zugelassen, nicht die Beschäftigten oder die noch nicht registrierte Gewerkschaft. Auch der dem Ministerium für Arbeit und So­zialschutz der Russischen Föderation unterstehende Föderale Dienst für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) betrachtete die Situation bei Wildberries als einen Konflikt ­zwischen Geschäftseinheiten und nicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Diejenigen Vertreter der Streikenden, die der Einladung folgten, stehen im Konflikt mit Prawda Sotrudnikow und erklärten ein vorläufiges Ende des Streiks. Während Prawda Sotrudnikow darauf verweist, dass das System der Geldstrafen keineswegs abgeschafft worden sei, und den Aufbau einer unabhängigen Gewerkschaft anstrebt, propagieren die zwei Konkurrenzor­ganisationen eine andere Strategie. Pro Wsojuz umfasst die Eigentümer der Franchises und möchte ihre Interessen gegenüber Wildberries unter Vermittlung der Duma-Abgeordneten vertreten. Weit größer ist jedoch die Gruppierung Mega Bunt, deren Telegram-Kanal 15 000 Abonnenten hat und die für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Dialog mit den staatlichen Stellen plädiert. In der ehemals völlig ­gewerkschaftsfreien Zone agieren nun parallel gleich drei informelle Interessenvertretungen.

Der Streik bei Wildberries habe die Vorstellung widerlegt, dass die Kampfformen der alten Arbeiterbewegung in der heutigen Ökonomie nicht mehr funktionieren würden, kommentiert der linke Soziologe Boris Kagarlizkij auf dem Online-Kanal Rabkor. Mit ihrem Streik hätten sich auch die formell als selbständige Manager der Ausgabe- und Auslieferungspunkte geführten Angestellten selbst als ausgebeutete Arbeitnehmer definiert, so ­Kagarlizkij. Nachdem in den vergangenen Jahren schon Kuriere von Lieferdiensten gestreikt und eine eigene Gewerkschaft gegründet hatten, sei das ein weiteres Beispiel dafür, dass »in der Netzwerkökonomie Netzwerkgewerkschaften entstehen«.