Der ungarische Philosoph Gáspár Miklós Tamás

Ein Leben gegen den Autoritarismus

Der ungarische Philosoph Gáspár Miklós Tamás war linker Dissident im Realsozialismus, liberaler Politiker nach dessen Kollaps und schließlich ein radikaler Kritiker von Kapital, Nation und des »postfaschistischen« Autoritarismus. Am 23. Januar starb er in Budapest.
Essay Von

I.
Historisch gesehen assoziiert man politische Beerdigungen eher mit den Bedingungen autoritärer Herrschaft. Oft dienten sie dazu, öffentlich Dissens auszudrücken, wenn andere Formen des Protests nicht möglich waren. Doch gibt es dafür eine wichtige Voraussetzung: Trauer muss noch als kollektives Ritual verstanden werden. Das ist auch der Schlüssel für die heutige Situation: Politische Beerdigungen sind nicht deshalb allmählich verschwunden, weil es keinen Autoritarismus mehr gäbe, sondern wegen einer anderen Veränderung, die sowohl autoritäre als auch liberale Gesellschaften betrifft: die Verwandlung der Trauer in eine Privatangelegenheit.

Entgegen dieser Entwicklung war die Beerdigung von Gáspár Miklós Tamás im Januar 2023 in Budapest eindeutig politisch. Der Anlass brachte nicht nur Verwandte und alte Freunde zusammen. Die überwältigende Mehrheit derer, die sich an diesem kalten Dienstagnachmittag auf dem Budapester Friedhof Farkasréti einfanden, hatte Gáspár nicht persönlich gekannt. Mit Ausnahme einiger Anhänger der Regierung Viktor Orbáns (die vielleicht gekommen waren, um mit eigenen Augen zu sehen, was eine ungarische Zeitung nach Gáspárs Tod verkündet hatte: das Ende des ungarischen Marxismus) war diese wunderbar gemischte Menge aus Jung und Alt, Einheimischen und Angereisten da, weil ihre Trauer um den Verlust eines öffentlichen Intellektuellen keine private Angelegenheit war.

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