Die Abwehr von Long ­Covid als sozialpolitische Frage

Die Kohärenz der Unmenschlichkeit

Über die Abwehr von Long Covid als sozialpolitische Frage, die Moral der Pandemiepolitik, die Niederlage der instrumentellen Vernunft und die Aufgaben einer humanen Gegenrationalität.
Hintergrund Von

Ist vom Beklatschen der »Systemrelevanten« zu Beginn der Pandemie noch etwas übrig? Ja, denn die Helden von damals werden immerhin noch abgewatscht. In Österreich sprach der Oberste Gerichtshof im Februar ein wegweisendes Urteil: An Long Covid Erkrankte, die sich bei der Arbeit mit Sars-CoV-2 infiziert hatten, haben keinen Anspruch auf eine Versehrtenrente, die die Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit ausgleichen könnte. Dem vorausgegangen war eine gegen die Pensionsversicherungsanstalt gerichtete Klage einer Long-Covid-Patientin, die sich 2020 als Landesbedienstete im Sanitätsstab angesteckt hatte. Hinzu kommt die Abschaffung der flächendeckenden kostenlosen Coronatests, die den Nachweis von Long Covid erschwert. Mit solchen Entscheidungen spannt der Sozialstaat ein umfassendes Sicherungsnetz: Es schirmt ihn gegen Betroffene ab.

Alles deutet darauf hin, dass Long Covid als sozialpolitisches Problem öffentlich nicht anerkannt werden soll. Umso besser gelingt das, wenn Patienten als unnötiger Ballast für die Volkswirtschaft und das Gesundheitssystem angesehen werden. Berichte darüber, dass der Rekordkrankenstand 2023 das Wirtschaftswachstum bremse, werden durch Kommentare zum Beispiel im Handelsblatt ergänzt, dass viele der »angeblich« Kranken doch eigentlich arbeiten könnten. Und in der Stuttgarter Zeitung heißt es: »Eindeutig ist dagegen die Belastung des Gesundheitssystems. Long-Covid-Patienten gehen ausweislich der AOK-Daten sechsmal häufiger zum Lungenfacharzt, dreimal so oft zum Kardiologen und fast doppelt so oft zum Hausarzt.« Die Überbetonung der Möglichkeit einer psychischen Genese von Long Covid kommt dabei den Bedürfnissen einer Gesellschaft entgegen, welche ihre Funktionalität nicht durch Angst vor dieser Erkrankung beeinträchtigen lassen darf. Hinweise auf Viruspersistenz im Körper, Störungen des Immunsystems oder neuronale Entzündungen stellen das herrschende laissez faire eher in Frage.

Warum aber können auch dezidiert Linke der Psychosomatisierung etwas abgewinnen? Es könnte damit zu tun haben, dass der große Fortschritt durch das Fach psychosomatische Medizin – die Entstigmatisierung von Krankheiten mit psychogener Komponente gehört sicher dazu – unbewusst essentialisiert wird. Kein Geheimnis ist, wie stark manche Long-Covid-Patienten unter Stigmatisierung leiden. Doch sollte nicht übersehen werden, dass eine Entstigmatisierung, solange die bewusste Mehrfachdurchseuchung nicht ergänzend skandalisiert wird, auch eine Verdrängung der Erkrankung Long Covid aus dem öffentlichen Bewusstsein begünstigen könnte.

Von der Entstigmatisierung bliebe dann nur übrig: »Alles halb so wild.« Ein Argument lautet, dass die Angst vor Long Covid die Entstehung von Long Covid begünstige. Es ist durchaus möglich, dass sie neben der Fähigkeit von Sars-CoV-2, alle Organe einschließlich des Gehirns zu befallen, eine kleine Rolle spielt. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass Ignoranz gegenüber den Gefahren von Sars-CoV-2 so vielen als Ausdruck unbestechlicher Rationalität erscheint.

Die autoritäre Politik der Lockdowns sei nur ein Vorgeschmack auf das, was uns im Namen des Kampfs gegen den Klimawandel noch drohe – so »warnten« Rechte zu Beginn der Pandemie. Eher verlangte die Pandemiepolitik den Menschen eine Einübung darin ab, jede künftige Einschränkung, die ihrem längerfristigen Wohl dient, als größte Zumutung zu sehen.

Die autoritäre Politik der Lockdowns sei nur ein Vorgeschmack auf das, was uns im Namen des Kampfs gegen den Klimawandel noch drohe – so »warnten« Rechte zu Beginn der Pandemie.

Eine weitere Verbindung der Themen Pandemie und Klimawandel zeigt sich, wenn man Maria Van Kerkhove zuhört, der Epidemiologin und Covid-19-Spezi­alistin der Weltgesundheitsorganisation (WHO). »Wir befinden uns immer noch in einer Pandemie«, sagte sie im Februar der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Scientific American. Und weiter: »Auf individu­eller Ebene herrscht große Bequemlichkeit, und noch besorgniserregender ist für mich die auf Regierungsebene. Lassen Sie sich testen, damit Sie die richtige Behandlung erhalten. Tragen Sie Masken, wenn Sie sich an überfüllten Orten aufhalten. Wenn Sie in der Nähe älterer Menschen sind, testen Sie sich selbst, bevor Sie losfahren; verwenden Sie einen Selbsttest – solche Dinge. Aber das reicht nicht. Regierungen müssen Tests bereitstellen, und diese Tests müssen entweder zu einem reduzierten Preis oder kostenlos verfügbar sein.«

Das erinnert an die zahllosen Warnungen von Klimawissenschaftlern, die ihre Befürchtungen immer wieder als noch zu optimistisch revidieren müssen, und auch an den Eindruck, die Experten stünden kurz davor, aus ihren Daten wissenschaftlich einwandfrei die Notwendigkeit eines ganz anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems abzuleiten. Und an die Entgegnung der sehr beherrschten herrschenden Klasse: Aber wir sind doch schon dabei, die Steigerungsrate der Treibhausgasemissionen zu reduzieren, langfristig werden wir außerdem die eine umweltschädliche Form der Energiegewinnung durch eine andere ersetzen.

Vielleicht ist gerade, dass jeder Zusammenhang zwischen dem, was zu tun wäre, und dem, was getan wird, aus dem Bewusstsein schwindet, das, was es den meisten Menschen erst ermöglicht, die Realitätsideologisierung und Normalitätssimulation aufrechtzuerhalten. Die Fokussierung auf die Ausweglosigkeit erscheint als letzte Rettung. Wären noch die geringsten Infektionsschutzmaßnahmen in Kraft, würden sich vermutlich doch noch einige die Frage stellen: Aber sollten wir nicht mehr tun, um die Vulnerablen zu schützen? Wenn nicht einmal das Mindeste getan wird, um die Gefährdung der Alten und Schwachen zu verringern, lässt sich Untätigkeit umso leichter als alternativlos rationalisieren. Auch hier wieder: In der konsequenten Leugnung und Verdrängung – sogar gegen betriebs- und volkswirtschaftliche Vernunft – liegt eine bestialische Pseudorationalität.

Angesichts der Versuche, die notwendige Revitalisierung der Kapitalakkumulation durch eine Transforma­tion zur »Green Economy« als Beitrag zur Rettung der Welt darzustellen, schrieb Rainer Trampert: »Während der Mensch in Ungnade fällt, werden Dinge mit Moral angereichert.« Vor Moral trieft auch die übliche öffentliche Pandemienachbetrachtung, die den Menschen aber gerade deswegen fallenlässt, weil sie gnädig mit seinen falschen Wünschen und Bedürfnissen ist. Nie wieder sollen Abiturprüfungen verschoben werden, nie wieder sollen Automobilwerke kurzfristig schließen müssen, nie wieder sollen Flugzeugpassagierzahlen sinken, denn was zählt, ist der Mensch, jedenfalls ein bestimmter Typus.

Bei dieser Nachbetrachtung werden die Probleme von Menschen hervor­gehoben, die sich vor dem Besuch des Kabaretts schnelltesten mussten, während die Probleme von alten, an Covid-19 erkrankten Menschen, die in Schweden beispielsweise mit Morphium in den Tod gespritzt wurden, eher nicht vorkommen.

Die gesellschaftliche Stimmung scheint nun derart zu sein, dass Politiker es nicht einmal wagen, sich die Abschwächung der Pandemie als Erfolg gutschreiben zu lassen. Nicht einmal einen falschen Nationalstolz auf die ­Bewältigung der Krise gibt es, nur Reue über überschießende Maßnahmen, ­sowie das Versprechen, aus den »Fehlern« gelernt zu haben und bei der nächsten Pandemie nicht so zimperlich mit den Alten und Kranken umzugehen.

Taugte Moral sonst nicht eher, um der These entgegenzutreten, der Mensch sei im herrschenden Wirtschaftssystem nur eine Durchgangsstation der Akkumulation abstrakten Reichtums? Trachtete sie nicht ständig danach zu beweisen, dass das Schöne und Wahre sich in der Gesellschaft am Ende durchsetzt? Moral ermöglichte es den Einzelnen, sich gegen die Verdinglichung zu stemmen. Heutzutage ahndet sie alle Versuche, die Bindung des Menschen an kapitalistische Zweckrationalität anzugreifen.

In der Moral konnte die Hoffnung auf eine bessere Welt Unterschlupf suchen. Zwar war die Hoffnung dort auch verwahrt, auf dass sie sich nicht erfülle, aber immerhin noch aufgehoben. Derzeit müssen wir allerdings eine an­dere Aufhebung der Hoffnung beobachten. Die Doppelfunktion der Moral, nämlich die schlechte Welt vor kon­sequenter Hoffnung zu schützen, aber dafür auch die Hoffnung selbst zu schützen, ist vorläufig abgeschafft. Unter solchen Umständen kann eine ­Äußerung wie: »Ach, meine liebe alte Nachbarin könnte noch leben, wenn es strengere Vorkehrungen zum Gesundheitsschutz gegeben hätte« nicht einmal mehr als Moralisieren gelten, sondern als Ausdruck linksradikalen Wahns.

Folgen der Infektion

Eine Betrachtung der Pandemiesitua­tion soll nicht ohne Verweis auf die neuesten wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnisse auskommen. Auf diese wird zwar immer wieder hingewiesen, aber man muss entsprechende Berichte zwischen Meldungen suchen, dass die zunehmende Gewalt an den Schulen eine Nachwirkung der Lockdowns darstelle – als ob es so etwas wie eine »Gewaltschuld« gebe, die die Jugendlichen angesammelt hätten, weil sie während der Isolationszeit Gewalt weniger ausleben konnten. Im Februar veröffentlichten die Sars-CoV-2-Forscher Ziyad Al-Aly und Eric Topol im Fachmagazin Science den Artikel »Solving the puzzle of Long Covid« (»Das Rätsel um Long Covid lösen«). Darin halten sie fest, dass es sich bei Long Covid um eine komplexe Erkrankung mit möglichen Folgen in nahezu allen ­Organen handelt. Long Covid weist demnach Subtypen auf, mit unterschiedlichen Risikofaktoren, biologischen Mechanismen und Behandlungsmöglichkeiten.

Die Mechanismen fassen sie so zusammen: Persistenz des Virus oder seiner Bestandteile im Gewebe; eine unkontrollierte, fehlgeleitete Immunantwort; mitochondriale Dysfunktion; vaskuläre und neuronale Entzündung; gestörte Darmfunktion. Bei Menschen mit einer schweren Covid-19-Erkrankung kann es zu einer Replikation des Virus im Lungengewebe kommen, zu ­einer Persistenz der Sars-CoV-2-RNA über Monate im Gehirn oder den Koronararterien. Inwiefern dieser Mechanismus zu Long Covid beitragen kann, ist allerdings nicht geklärt.

Als sicher gilt, dass Sars-CoV-2 ruhende Viren im Körper reaktivieren kann, einschließlich der Epstein-Barr- und Varizella-Zoster-Viren, sowie zu Darm-Hirn-Hormon-Dysfunktionen und gestörter Blutgerinnung führen kann. Jede weitere Infektion bringt ein neues Risiko, Long Covid zu entwickeln. Zusätzlich zum Risiko von Long Covid erhöht eine Sars-CoV-2-Infektion das ­Risiko für viele chronische Erkrankungen und führt zu einem Anstieg von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, neurologischen Beeinträchtigungen und Autoimmunerkrankungen.

Al-Aly und Topol belassen es in ihrem Artikel nicht bei der Wiedergabe der medizinischen Fakten, sondern äußern sich politisch. Zum einen beklagen sie einen Trend des »Long Covid denialism«, der ihrer Ansicht nach mit wissenschaftsfeindlichen und Antiimpfbewegungen verbunden ist. Zudem notieren sie: »Die Verhinderung von ­Infektionen und Reinfektionen ist der beste Weg, um Long Covid vorzubeugen, und sollte die Grundlage der öffentlichen Gesundheitspolitik bleiben. Ein größeres Engagement für nichtpharmazeutische Interventionen, einschließlich Maskentragen, insbesondere in Hochrisikoumgebungen, und verbesserte Luftqualität durch Filterung und Belüftung sind erforderlich. Die Aktualisierung der Bauvorschriften, um eine Eindämmung von Krankheitserregern in der Luft zu fördern und eine sicherere Raumluft zu gewährleisten, sollte mit der gleichen Ernsthaftigkeit behandelt werden wie die Eindämmung von Risiken durch Erd­beben und andere Naturgefahren.«

Kürzlich wurde im Fachmagazin The Lancet zudem eine Metaanalyse ver­öffentlicht, bei der sich ein 17fach erhöhtes Risiko für eine beginnende Demenz bei über 60jährigen nach schweren Fällen von Covid-19 zeigte; eine Studie in  Nature Neuroscience beschrieb eine Disruption der Blut-Hirn-Schranke bei kognitiven Problemen infolge einer Infektion.

Erschöpfung und Ungewissheit. Pflegekräfte einer Intensivstation in den Niederlanden versorgen zu Beginn der Pandemie mit Covid-19 infizierte Patienten, 10. Dezember 2020

Erschöpfung und Ungewissheit. Pflegekräfte einer Intensivstation in den Niederlanden versorgen zu Beginn der Pandemie mit Covid-19 infizierte Patienten, 10. Dezember 2020

Bild:
picture alliance / Robin Utrecht

Ein kursorischer Überblick über ein­fache Statistiken zeigt: In den USA war im Jahr 2023 die Zahl der Todesfälle, die in Verbindung mit Herzerkrankungen, Rhythmusstörungen, Blutgerinnseln, Diabetes oder Nierenversagen stehen, um bis zu 28 Prozent höher als ­erwartet; in Finnland wies 2023 eines von 13 Neugeborenen eine Deforma­tion oder Chromosomenanomalie auf, wobei die Zahl solcher Fälle seit Beginn der Pandemie jährlich um 75 Prozent steigt – diese Zahlen erinnern an eine brasilianische Studie, bei der sich zeigte, dass zehn Prozent der Neuge­borenen, die während der Schwangerschaft Sars-CoV-2 ausgesetzt waren, Auffälligkeiten bei der Schädelsonographie zeigten; in Großbritannien hat sich seit Beginn der Pandemie die Zahl der Menschen drastisch erhöht, die sich aufgrund chronischer Erkrankung in einem Zustand »ökonomischer Inaktivität« befinden: Über 700.000 sind es mehr als vor der Pandemie. Im Interview mit dem Spiegel sagte die Yale-Professorin und Long-Covid-Expertin Akiko Iwasaki: »Ja, ich habe immer noch Angst vor Sars-CoV-2.«

Iwasakis Empfehlung, in Innenräumen, in denen sich viele Menschen aufhalten, eine Maske zu tragen, wird auf das gesellschaftlichen Leben und politische Entscheidungen keinen großen Einfluss haben. Je deutlicher wird, dass Covid-19 selbst nach Impfung und Teilimmunität durch durchgemachte Infektionen nicht »nur« wie die Influenza ist – worin ohnehin schon eine entsetzliche Verharmlosung der Influenza liegt –, desto widerstandsloser wird Sars-CoV-2 bloß als neuer Konkurrent um die Vorherrschaft unter den Erkältungsviren gezeichnet.

Welche Staaten man auch untersucht, beinahe überall scheint das Motto zu lauten: Wenn schon falsche Politik, dann richtig. Diese neue Pandemiepolitik, die in der Beendigung der Pandemiepolitik besteht, wirkt in ihrer unerhörten Konsistenz überzeugender als alles zuvor. Impfung? In Deutschland haben gesetzlich Krankenversicherte, für die nach der Schutzimpfungsrichtlinie keine Indikation für eine Covid-19-Impfung vorliegt, die zu impfen ein Arzt aber für medizinisch erforderlich hält, ab März keinen Anspruch mehr auf Erstattung der Impfkosten durch die Krankenkasse.

Die in einigen Staaten beobacht­baren Ausbrüche der Erkrankung Masern sind womög­lich auf die während der Covid-19-Pandemie weitergewachsene Impfskepsis zurückzuführen.

Letzte Vorsichtsmaßnahmen für Nichtreiche? Auch die US-Seuchenschutzbehörde ließ im März die Fünf-Tage-Isolationsrichtlinie nach einem positiven Test fallen – vor Besuchen im Weißen Haus galten lange Zeit zehn Tage Isolation als Pflicht. Maßnahmen gegen krankheitsbedingten Unterrichtsausfall an Schulen? Der Anteil der Schüler in Großbritannien, die pro Schuljahr 19 Tage oder mehr fehlen, liegt nun bei über 20 Prozent; vor der Pandemie waren es rund zehn Prozent. Die britische Regierung antwortet mit der Kampagne: »Moments matter, attendance counts«, deren Betitelung man wohl mit: »Schicken Sie Ihr krankes Kind in die Schule, dort wird es bestimmt gesund« übersetzen muss. Dank der Kampagne wissen Eltern nun, dass sie Kinder mit leichten Atemwegsinfekten, leichten Erkältungen, Bindehautentzündung und Fadenwürmern in die Schule schicken sollen. (Wie sieht es mit Keuchhusten aus, der sich in Großbritannien munter verbreitet?)

Ausbau des sozialen Schutzes für chronisch erkrankte Menschen? In Frankreich droht vielmehr der Ausbau des Schutzes des Staatshaushalts vor chronisch erkrankten Menschen; bei der Versorgung der rund 13 Millionen Menschen mit langanhaltenden ­Erkrankungen sollen sechs Milliarden Euro eingespart werden. Verbesserung der medizinischen Versorgung als Reaktion auf einen insgesamt schlechteren Gesundheitszustand der Bevölkerung? Die österreichische Gesundheitskasse arbeitet an Plänen, den Zugang zu Fachärzten deutlich zu erschweren.

Lehren aus der Pandemie im Umgang mit anderen Infektionskrankheiten? Die in einigen Staaten beobachtbaren Ausbrüche der mancherorts schon als ausgerottet geltenden Erkrankung Masern sind womöglich auf die während der Covid-19-Pandemie weitergewachsene Impfskepsis zurückzuführen. in Österreich sinken die Masernimpfquoten. Im US-Bundesstaat Florida empfahl der Sanitätsinspekteur Joseph Lapado, Gefolgsmann des rechtsextremen Gouverneurs Ron DeSantis, nicht gegen die Masern geimpfte Kinder auch dann in die Schule zu schicken, wenn sich dort akut Masernausbrüche zutragen.

Von Seuche zu Seuche

Auch dieser Artikel neigt dazu, implizit der Politik zu empfehlen, wie sie sich besser um das Wohl des Staats und seiner Wirtschaft kümmern könne. Dabei erkennen Linke gerade im selbstzweckhaften Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft eine Ursache nicht nur der Entstehung von Seuchen – durch die Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft steigt die Chance für »spillover events«, wie es jüngst auch mit dem H5N1-Virus passiert ist, das in den USA von Vögeln auf Kühe und von diesen auf einen Menschen übertragen wurde –, sondern auch eine der Institutionalisierung einer Menschenfeindlichkeit, die solche nett gemeinten Empfehlungen erst recht wieder als lächerlich, träumerisch oder gefährlich brandmarkt.

Die kapitalistisch-instrumentelle ­Rationalität ist in vielerlei Hinsicht Geburtshelfer des Wahns, zu dem die ­Gesellschaften derzeit tendieren. Aber um diesen Grundstock des Wahns wirkungsvoll kritisieren zu können, schadet es sicher nicht, sich damit zu befassen, was gemäß der instrumentellen Vernunft politisch geschehen müsste. Womöglich lässt sich nur noch daraus eine radikal-humanistische Gegenrationalität destillieren.

Auch wenn dieses Destillat nur noch aus Fragen bestehen kann: Was bedeutet es, wenn Ableismus und Sozialdarwinismus in Antirassismus, Antisemitismuskritik, Antisexismus und andere gesellschaftlichen Formen der Solida­rität mehr und mehr eindringen? Was hat es mit der These auf sich, dass sich der Staat, in der Klima- wie in der Pandemiepolitik, von seiner Rolle als ideeller Gesamtkapitalist mehr und mehr verabschiedet und eher den bornierten Einzelinteressen mancher Kapitalfrak­tionen entsprechend handelt, worüber Maximilian Hauer in seinem Buch »Seuchenjahre« schreibt? Oder: Was ist von der These eines anonymen Internetkommentators zu halten, die Tatsache, dass von schwerer, unterbezahlter Lohnarbeit gezeichnete Menschen sich bedenkenlos Infektionen aussetzen, lasse sich auch daraus erklären, dass für viele ein Leben als Langzeiterkrankte mit geringen staatlichen Zuschüssen insgeheim die letzte Hoffnung darstellt?