»Music«, der neue Film von Angela Schanelec

Kein Rätselabend für die Bildungsbürger

Die Filme von Angela Schanelec muss sich der Zuschauer in der Regel selbst erschließen, die Regissseurin arbeitet mit dem ästhetischen Verfahren der Auslassung. In ihrem neuen Werk »Music« gesellen sich dazu noch allerlei Bezüge auf die griechische Mythologie.

Über einem kargen, hügeligen Tal am Mittelmeer zieht Hochnebel auf. Wirbel formen sich in der Luft und ein ferner Wind kommt immer näher, bis es schließlich zu donnern beginnt. Es folgt eine Nachtszene, in der, wie mehr zu erahnen als zu erkennen ist, ein Mann an einem Hang eine verzweifelt weinende, ansonsten aber bewegungslose Frau zwischen Kisten ablegt. Nach einem Schnitt ist derselbe Hang aus derselben Perspektive bei Tageslicht zu sehen. Die Frau ist verschwunden, aber nach kurzer Zeit kommt der Mann ins Bild gestrauchelt, das er unter Schwierigkeiten durchquert und über einen steilen Bergpfad wieder verlässt.

Wie auch im Folgenden hält die Kamera das Geschehen oder vielleicht eher doch die Orte, an denen etwas stattfindet oder eben nicht, in meist unbewegten Einstellungen fest, als interessiere sie sich mehr für die Umgebung, die Arrangements von Steinen, Macchia, Wegen und den Himmel als für menschliche Angelegenheiten. Dennoch ergibt sich mit der Zeit eine Erzählung in »Music«, dem neuen Film von Angela Scha­nelec, in der die zufällig anmutenden Bewegungen, Unternehmungen und Wege der (mehr oder weniger) Handelnden sich zu einer Art archaisch anmutender griechischer Tragödie ausweiten. Sie beginnen, einander zu bedingen, und werden zur Ursachen dafür, dass andere Figuren neue Richtungen einschlagen.

Nicht von ungefähr gelten Scha­nelecs Filme als sperriges, schwer verständliches Kassengift und ihre Drehbücher als kryptisch und bildungsbürgerlich. In diesen arbeitet Schanelec tatsächlich oft mit Auslassungen – um psychologisch motivierte Figuren oder Erzählungen geht es ihr dabei weniger. Vielmehr montiert sie starke, distanziert-beobachtende Bilder mit fast schon mythischer Qualität zu rätselhaften Ta­bleaus, die Zuschauer:in­nen sich weitgehend selbst erschließen müssen. Dieses Verfahren erinnert zumeist eher an die Bildende Kunst als an das Kino mit seiner Stringenz und auf berechenbare emotionale Höhepunkte ausgelegten Storylines.

In der ersten Hälfte von »Music« herrscht, bis auf die für Filme der Berliner Schule typischen Naturgeräusche, Stille.

Man durfte also durchaus überrascht sein von der fast überschwäng­lichen Berichterstattung der nicht unbedingt als ausgewiesenes Fachblatt für Filmästhetik geltenden Berliner Boulevardzeitung B.Z. zur Premiere von »Music« auf der diesjährigen Berlinale, deren Wertung folgendermaßen ausfiel: »Auf den minimalistisch rätselhaften Stil Scha­nelecs muss man sich einlassen wollen. Doch dann wird man meist belohnt. ›Music‹ ist einer ihrer besten Filme.« Noch erstaunlicher war jedoch, dass sie bei der Preisverleihung des Festivals ausgerechnet mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch geehrt wurde – zumal der diesjährige Wettbewerb sich insgesamt nicht gerade der Filmavantgarde verschrieben hatte, sondern eher dadurch von sich reden machte, dass gut ein Viertel der konkurrierenden Filme deutsche Produktionen waren.

In der ersten Hälfte von »Music« herrscht, bis auf die für Filme der Berliner Schule typischen Naturgeräusche, Stille. Kaum einmal gibt es mehr als karge Dialoge, die Menschen scheinen nicht gewillt, mehr als die nötigste Nähe zuzulassen oder sich gar über ihre Befindlichkeiten auszutauschen. Selbst in Momenten höchster emotionaler Innigkeit oder des Schmerzes wird nicht oder nur das Notwendigste gesprochen.

Was sich nach und nach erschließt, ist, dass Jon (Aliocha Schneider) einst von seinem Vater in den griechischen Bergen ausgesetzt wurde; später erschlägt er ihn aufgrund einer unglücklichen Verkettung von Umständen. Er heiratet eine Frau, Iro (Agathe Bonitzer), die er als Wärterin im Gefängnis kennengelernt hat, während er seine Strafe für den von ihm begangenen Totschlag verbüßte. Sie nimmt für ihn Arien von Händel, Pergolesi und Purcell auf, die er zu singen lernt, um die Gefängnismauern und seine Sprachlosigkeit zu überwinden. Gemeinsam haben Jon und Iro irgendwann ein Kind, doch dann schlägt das Unheil erneut zu. Erst mit der Zeit erweist sich Jon bei alldem als der Protagonist einer eher umrissenen als klar skizzierten Handlung. Auf seiner Reise durch die Zeit wandelt er sich von Ödipus zu Orpheus, vom Unglücksvogel zum Sänger, der Tod und Verlust mit Hilfe seiner Stimme überwindet.

Der langsam aber sicher erblindende Ion (Aliocha Schneider)

Findet seine Stimme. Der langsam aber sicher erblindende Ion (Aliocha Schneider)

Bild:
Grandfilm

Auch wenn die Charaktere mit der Zeit agiler werden, die Erzählung also an Fahrt aufnimmt, bleiben die Einstellungen der Kamera selbst angesichts von Totschlag, plötzlicher ­Erkenntnis von Unglück oder sogar eines Selbstmords so gut wie unbewegt. Und trotz der mythisch aufgeladenen Dramatik der Ereignisse interessiert sich die kunstvoll arrangierte Kamera des Films weiterhin für Wolken, Wasser, Wind und Tiere. Immer wieder wird die Gleichzeitigkeit menschlichen und nichtmenschlichen Lebens festgehalten: Mäuse, Fliegen, Krabben, Hunde, Schwäne, sie alle bewegen sich durch die ­Bilder.

Der Film lebt von seinen großartigen Hauptdarstellern, ihren sparsamen Gesten und ihren kaum bewegten und doch ganze emotionale Welten transportierenden Gesichtern.

Dass diese auf den ersten Blick spröde scheinende Art des Erzählens in Ellipsen – so die bildungssprachliche Bezeichnung für das Stilmittel der Auslassungen – tatsächlich einen starken Sog entfaltet, wenn man bereit ist, sich auf sie einzulassen, liegt vor allem an zweierlei. Zum einen besteht der Film nicht aus willkürlich gewählter Symbolik, sondern Scha­nelecs Drehbuch bedient sich sehr geschickt einzelner Elementen aus den Mythen von Ödipus und Orpheus. Und das nicht, um einer kleinen Schicht von Bildungs­zbürger:in­nen einen amüsanten Rätselabend zu bereiten, sondern um die universelle Wirkmacht zu nutzen, die diese ­Mythen seit Jahrhunderten immer wieder aufs Neue unter Beweis gestellt haben. So entwickelt Schanelec eine Geschichte, in der Verlust, ­Unheil, Schuld und Erkenntnis von Schuld, die neues Unheil gebiert, zwangsläufig aufeinander folgen. Geheilt werden kann dieses gesammelte Elend nur im Symbolischen, durch die transzendierende Wirkung der Kunst.

Zum anderen aber lebt der Film von seinen großartigen Hauptdarstellern, ihren sparsamen Gesten und ihren kaum bewegten und doch ganze emotionale Welten transportierenden Gesichtern. Selten hat es im deutschen Film Gestalten gegeben, die derart in die Welt geworfen wirkten und dennoch ganz dafür geschaffen schienen, das Gewicht des als unabänderlich erkannten Schicksals an den von ihnen bewohnten Orten klaglos zu tragen.

Und dann ist da, vor allem in der zweiten Hälfte, natürlich die dem Werk den Namen gebende Musik. Sie wird immer präsenter, je mehr sich Jons Welt nicht nur durch ihm zustoßendes Unheil, sondern auch durch das Schwinden seiner Sehkraft verfinstert. Die Arien, die er im Gefängnis zuerst hört und bald selbst singt, hellen seine Züge und die ihn umgebende Atmosphäre auf. Viel später sind es dann die Songs des Kanadiers Doug Tielli, die er adaptiert und auf die er eine Karriere und ein ­Leben mit Wahlfamilie in Berlin gründet.

Für »Music« braucht man ein gewisses Durchhaltevermögen und den Willen, sich auf den Films einzulassen. Dann jedoch wird man reich belohnt, und dem Urteil aus der B.Z. ist eigentlich kaum noch etwas hinzuzufügen.

Music (D/FR/SER 2023). Buch und Regie: Angela Schanelec. Darsteller: Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer