Wladislaw Inosemzew, Ökonom, im Gespräch über die russische Kriegswirtschaft

»Die enorme Anzahl neuer Gräber lässt sich nicht verheimlichen«

Die russische Regierung will eine erneute Zwangsmobilisierung vermeiden und wirbt deshalb mit hohem Sold um freiwillige Rekruten. Auch die Hinterbliebenen der im Krieg getöteten Soldaten erhalten Geldsummen, die für viele russische Familien einem Vermögen gleichkommen. Dennoch melden sich immer weniger Freiwillige zum Kriegseinsatz. Ein Gespräch mit dem Ökonomen Wladislaw Inosemzew über die finanzielle Seite des russischen Kriegs.
Interview Von

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert nun schon fast anderthalb Jahre. Wer profitiert in Russland finanziell von dem Krieg?
Derzeit ist das ganz klar die Rüstungsindustrie. Der militärindustrielle Komplex gilt in Russland als rein staatlicher Industriezweig, was so nicht stimmt. In ihn sind auch zahlreiche Geschäftsleute involviert, wie Andrej Bokarew, Miteigentümer des Lokomotiv- und Waggonherstellers Transmashholding und des Kohleförderunternehmens Kusbassrasresugol. Außerdem profitieren von Rüstungsaufträgen auch andere Branchen und Zulieferer. Insgesamt fließt viel Geld ins Militär, auch in Form von Gehältern. Im geschäftlichen Sinn sind die Hauptprofiteure also in der Rüstungsindustrie und im Umfeld des Kremls zu suchen.

Ist es angebracht, von einer Kriegsökonomie in Russland zu sprechen?
Das ist stark übertrieben. Nach Einschätzung der CIA und anderer westlicher Experten beliefen sich Mitte der achtziger Jahre in der Sowjetunion die Ausgaben für die Armee einschließlich der Rüstungskosten auf zwölfeinhalb bis maximal 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Meiner Ansicht nach liegt in Russland heute der Anteil der Rüstungsausgaben real bei etwa zweieinhalb Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und die Gesamtmilitärausgaben, mit allen laufenden Kosten und dem Unterhalt der Streitkräfte, liegen bei rund sechs oder sieben Prozent. Von einer Kriegsökonomie ließe sich ab zehn und mehr Prozent sprechen.

Heißt das, die Obergrenze ist noch nicht erreicht?
Ob ein stetiges Anwachsen der Rüstungsausgaben realistisch ist, wird sich erst im weiteren Verlauf des Kriegs zeigen. Ausschließen kann man es nicht.

Viele Experten sagen seit langem eine neue Teilmobilmachung wie im vergangenen September oder sogar eine Generalmobilmachung voraus. Stattdessen sehen wir, dass der Staat mit Geldversprechen um neue Soldaten wirbt. Dmitrij Medwedjew, der stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats, sprach kürzlich von 231.000 seit Jahresbeginn Rekrutierten. Sie haben in einem auf der Analyseseite Riddle veröffentlichten Text von einer »eigenartigen Verbindung eines Kults des Todes und Kults des Geldes« gesprochen, die erkläre, dass die russische Armee weiterhin Rekruten findet. Was meinen Sie damit?
Mein Eindruck ist, dass der Staat sich vorrangig auf den Einsatz von freiwillig unter Vertrag genommenen Soldaten verlässt. Nach dem Scheitern der Einnahme von Kiew im vergangenen Jahr wurde der russischen Führung offenbar das Ausmaß an Verlusten klar und Putin ordnete die zusätzliche Auszahlung von fünf Millionen Rubel (derzeit rund 49.000 Euro) an die Hinterbliebenen jedes toten Soldaten an. Seine Entscheidung resultierte aus der Erkenntnis, dass es Geldzahlungen bedarf, damit die Leute trotz etlicher Soldatengräber weiter die Kriegsführung nicht infrage stellen. Dazu kommen hohe zusätzliche Versicherungszahlungen für verwundete oder getötete Soldaten und weitere Zahlungen im Todesfall aus dem Budget der jeweiligen regionalen Regierung und Sozialleistungen beispielsweise für Familien, in denen der Ernährer weggefallen ist. Addiert man alles zusammen, erhöhte sich der pro gefallenem Soldaten an Hinterbliebene ausgezahlte Betrag damit von zuvor drei auf insgesamt mindestens zehn Millionen Rubel (rund 98.000 Euro). Um so viel Geld zu verdienen, müssen männliche Russen mit durchschnittlichem Einkommen in zahlreichen Regionen mindestens 30 Jahre lang arbeiten.

»Der starke Kursverfall des Rubels und die Inflation führen zu einem ständigen Wertverlust des Lohns, ich denke also, die Summen werden weiter angehoben werden. Die Teilmobilmachung im vergangenen Jahr verlief ziemlich schlecht.«

Ähnlich war es mit dem Sold. Bereits kurz nach Ausrufung der Teilmobilmachung wurde deutlich, dass die damaligen monatlichen Soldzahlungen niemanden beeindruckten, weil sie unter dem russischen Durchschnittslohn lagen. Deshalb schnellten die Zahlungsversprechen seitens der Regierung, inklusive verschiedener zusätzlicher Leistungen, in die Höhe. Als die im vergangenen Herbst Neurekrutierten im Schützengraben auf Soldaten trafen, die seit Kriegsbeginn nur 40.000 Rubel monatlich erhielten, wurde auch deren Entlohnung angehoben. Seither beträgt der Grundsold 204.000 Rubel monatlich (knapp 2.000 Euro), plus weitere finanzielle Leistungen und Vergünstigungen.

Wird es dabei bleiben?
Der starke Kursverfall des Rubels und die Inflation führen zu einem ständigen Wertverlust des Lohns, ich denke also, die Summen werden weiter angehoben werden. Die Teilmobilmachung im vergangenen Jahr verlief ziemlich schlecht. Über eine Millionen Menschen haben das Land verlassen, rund 400.000 sind in Russland untergetaucht – ein derartiger Wegfall an Arbeitskräften ist viel zu gefährlich. Der Staat nötigt derzeit Großunternehmen, aus ihrer Belegschaft Rekruten zu entsenden und für diese aus eigener Tasche noch etwas zum Sold zuzuschießen, um zusätzliche Anreize für den Einsatz an der Front zu schaffen.

Ist der drohende Wegfall an Arbeitskräften bei einer Massenmobilmachung also der Grund für die Entscheidung zugunsten des Söldnermodells?
Ich denke schon. 300.000 zur Armee eingezogene Rekruten haben kaum Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, aber wenn dazu noch genau so viele das Weite suchen, ist das zu viel. Nicht die Teilmobilmachung an sich erzeugt Probleme, sondern ihre Auswirkungen tun es.

Und funktionieren die Geldanreize?
In gewisser Weise ja. In den Streitkräften sind keine Anzeichen eines Aufstands zu erkennen, nur im vergangenen Herbst gab es Aufruhr, als im Rahmen der Teilmobilmachung frisch Rekrutierte an die Front geschickt wurden. Im Moment scheint alles recht reibungslos abzulaufen. Die Leute erhalten ihr Geld, auch die Hinterbliebenen, obwohl es in einzelnen Fällen Probleme gibt, beispielsweise weil der Tod nicht nachgewiesen ist.

»Aber ein Problem bleibt – der Zulauf bei der Armee ist stark rückgängig.«

Aber ein Problem bleibt – der Zulauf bei der Armee ist stark rückgängig. Am Beispiel einer Kleinstadt ist der Wandel gut zu erläutern: Ein oder zwei Monate, nachdem Männer zur Armee eingezogen werden, beginnt das Geld zu fließen, ihre Familien kaufen plötzlich bessere Lebensmittel und Kleidung. Wenn jemand stirbt und Millionenzahlungen eintreffen, ist das Umfeld schockiert von derart immensen Summen.

Anfangs lief die Werbekampagne gut. Aber seit dem Frühjahr lässt sich die enorme Anzahl neuer Gräber nicht mehr verheimlichen. Da kommt dann schon der Gedanke auf, mit dem Gang zur Rekrutierungsstelle lieber noch zu warten. Das Parlament hat zwar im Frühjahr die entsprechenden Gesetze verschärft, um Zwangsrekrutierungen zu vereinfachen, aber ohne eine erneute Massenmobilmachung hilft auch das nicht, Massen zu rekrutieren. Bleibt nur, den Sold anzuheben.

Viele Menschen in Russland sind verschuldet und haben hohe Rückstände bei der Zahlung kommunaler Abgaben. Kriegsteilnehmer werden unter gewissen Umständen entschuldet. Ist das Teil dieser Taktik?
Kriegsveteranen erhalten derzeit enorme Vergünstigungen und es wird von staatlicher Seite alles unternommen, um ihre Schuldentilgung zu stunden oder sie teilweise zu übernehmen. Zwar haben viele Menschen Zahlungsrückstände, aber es wird wohl kaum ein großer Teil der Bevölkerung entscheiden, seine finanziellen Probleme durch einen Armeeeinsatz in den Griff zu bekommen.

All das klingt nach einer hohen Belastung der regionalen Haushalte und der föderalen Staatskasse. Wie lange sind solche Summen verkraftbar?
Obwohl die Regionen im Todesfall einen Anteil von umgerechnet 10.000 Euro oder mehr zuzahlen, belastet sie das kaum. Beim föderalen Haushalt geht es um weitaus höhere Summen. In den stark gestiegenen Ausgaben für das Verteidigungsbudget sind offenbar auch die Sozialausgaben für Soldaten und ihre Familien enthalten. Allen mir bekannten Einschätzungen nach bleiben diese jedoch unter einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dabei ist zu beachten, dass in Russland aufgrund der Korruption bei der Rüstungsproduktion etwa die Hälfte der Auftragssumme in privaten Taschen versackt. Anders sieht es bei Auszahlungen an Soldaten und ihre Angehörigen aus, da gibt es keine Verluste, die geben das Geld in der Regel sofort aus. Nach spätestens 18 Monaten kehrt die Hälfte des ausgegebenen Betrags in Form von Steuern zurück in die Staatskasse.

Wie schätzen Sie den Planungshorizont der russischen Regierung ein?
Einige Quartalslängen, höchstens. Mit Ausnahme der Produktionszyklen. Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende ginge, hieße das nicht, dass Uralwagonsawod (ein staatliches Rüstungsunternehmen, das unter anderem Panzer baut, Anm. d. Red.) seine Produktion einstellen würde, es würde sie vielleicht sogar hochfahren. Die Verluste an Militärgerät sind derart hoch, dass es Jahre dauern wird, sie auszugleichen. Erst kürzlich wurde mit 50 Panzern pro Monat ein besseres Niveau erreicht. Die Rüstungsindustrie hat für viele Jahre ausgesorgt.
 

Wladislaw Inosemzew

Wladislaw Inosemzew

Bild:
privat

Wladislaw Inosemzew ist Wirtschaftswissenschaftler, Sonderberater für das Projekt Russian Media Studies beim Middle East Media Research Institute (Memri) in Washington, D.C., und Direktor des Zentrums zur Erforschung der postindustriellen Gesellschaft in Moskau. Im Juli veröffentlichte er auf der Analyseseite »Riddle« den Artikel »Putin’s Deathonomics« über die Entlohnung russischer Rekruten und Zahlungen an Hinterbliebene von getöteten Soldaten.