Flucht nach Polen
In absoluten Zahlen hat Polen EU-weit bislang die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Dem UN-Flüchtlingswerk zufolge sind rund 13,7 Millionen Menschen über die Grenze nach Polen geflohen; 1,6 Millionen sind demnach dauerhaft im Land geblieben. Hunderttausende davon haben sich in der Hauptstadt Warschau niedergelassen.
In Polen erhalten sie einen legalen Aufenthaltsstatus, der Zugang zu Beschäftigung, Bildung, Gesundheitsversorgung und anderen Sozialleistungen einschließt. Seit 2023 wurden diese jedoch wieder gekürzt. Statistiken zufolge haben 71 Prozent der ukrainischen Geflüchteten in Polen einen Arbeitsplatz gefunden. Die meisten haben eine eigene Wohnung gefunden. Etwa 200.000 ukrainische Kinder besuchen polnische Schulen.
Die Straßen Warschaus sind geprägt von Solidaritätsbekundungen und ukrainischen Flaggen. In Umfragen befürworten es weiterhin 73 Prozent der Pol:innen, ukrainische Geflüchtete aufzunehmen. Doch die Zahl der Gegner ist von elf auf 19 Prozent gestiegen. Auch gibt es weniger freiwillige Helfer:innen, und die Bereitschaft zu spenden lässt deutlich nach. Grund dafür ist vor allem die Inflation seit Russlands Invasion in der Ukraine, die zwischen 15 und 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr beträgt. Insbesondere die Mietpreise sind in die Höhe geschossen, Wohnraum ist besonders in großen Städten knapp geworden. Vereinzelt kam es zu Übergriffen auf Ukrainer:innen.
Die nationalistisch-libertäre Oppositionspartei Konfederacja versucht, an den wachsenden Missmut in der Bevölkerung anzuknüpfen. In den vergangenen Monaten hat die Partei in Umfragen zugelegt. Ihre Anhänger:innen warnen vor der »Ukrainisierung Polens« und behaupten, ukrainische Frauen würden den Polinnen die Männer wegnehmen. In Wrocław stammt bereits etwa ein Viertel der knapp 700.000 Einwohner:innen aus der Ukraine. Darunter sind jedoch nicht zuletzt ukrainische Arbeitsmigrant:innen und Studierende, von denen sich schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine eine Million in Polen aufhielt.
Die Anhänger:innen der nationalistisch-libertären Oppositionspartei Konfederacja warnen vor der »Ukrainisierung Polens« und behaupten, ukrainische Frauen würden den Polinnen die Männer wegnehmen.
Eine von ihnen ist Natalia Panchenko, die aus der Region Połtawa stammt und eine dreijährige Tochter hat. Seit 2009 lebt die 34jährige in Polen. Sie wurde von der polnischen Zeitung Wprost zur Aktivistin des Jahres 2022 gewählt. Die gesamte Freizeit, die ihr neben ihrer regulären Arbeit als Filmproduzentin bleibt, widmet sie dem Einsatz für die Ukraine. »Mein Gewissen plagt mich, weil ich gerade eine schreckliche Mutter bin«, sagt sie der Jungle World.
Natalia leitet die Organisation Euromaidan Warszawa. Mehr als 100 Demonstrationen habe sie bereits zur Unterstützung der Ukraine organisiert, sagt sie. Kurz nach Kriegsbeginn sei sie an die polnisch-belarussische Grenze gefahren, wo sie über einen Monat lang zusammen mit anderen Aktivist:innen Lastwagen blockierte, die russische Güter transportieren sollten. So sei es ihnen gelungen, die Regierung zum strikteren Einhalten der Sanktionen gegen Russland zu zwingen, erzählt Natalia.
Weitere Anliegen der Gruppe seien die Freilassung ukrainischer Kriegsgefangener und Waffenlieferung an die Ukraine. Da Pol:innen immer weniger spendeten, sei zudem die Einrichtung eines monatlichen Spendenabonnements geplant. Außerdem organisiere Euromaidan Warszawa psychologische und materielle Hilfe für Geflüchtete. Zugleich bemühe man sich um Professionalisierung, so Natalia: »Wir versuchen gerade, feste Strukturen und Arbeitsplätze innerhalb der Organisation zu schaffen, die bislang nur auf der Arbeit von Freiwilligen basiert, da wir uns auf einen langen Krieg einstellen müssen und Gefahr laufen auszubrennen.«
Wie viele andere sind Natalias Eltern mittlerweile wieder in die Ukraine zurückgekehrt. Natalia berichtet, es sei ihnen jedoch problemlos möglich, sie in Warschau zu besuchen oder wiederzukommen, falls sich die Situation nochmal verschlimmern sollte.
Der Aktivist Taras Gembik wiederum berichtet der Jungle World, sein Vater sei derzeit in der Ukraine und kämpfe an der Front gegen Russland. Er selbst betreibt mit einer Handvoll anderer Leute das Kulturzentrum »Słonecznik« (Sonnenblume) im Zentrum Warschaus. »Euromaidan Warszawa kümmert sich um den harten Aktivismus, wir haben uns dem soften Aktivismus in Form von Kunst und Kultur verschrieben«, sagt Taras. Darunter zählt er zum Beispiel regelmäßige Vorträge zum russischen Imperialismus oder den Vertrieb von Shirts mit dem Aufdruck »Decolonize Russia«. Die Shirts seien unter anderem auf der Warschauer Pride verkauft worden. Der Erlös werde anschließend gespendet.
Noch arbeitet Taras in der Modeindustrie. Bald trete er jedoch eine Stelle in einer Organisation an, die Sinti:zze und Rom:nja unterstützt, erzählt er. Deren Zahl habe sich seit Beginn der Invasion mit den aus der Ukraine Geflüchteten auf 60.000 Menschen verdreifacht. Sie würden in Polen enorm diskriminiert werden, so Taras.
Taras kümmert sich in seiner politischen Arbeit vor allem um marginalisierte Gruppen unter den Geflüchteten aus der Ukraine und aus anderen Ländern. Während Geflüchtete mit ukrainischem Pass in Polen Zuflucht und Hilfe erhalten, wird Drittstaatsangehörigen, die sich in der Ukraine beispielsweise als Studierende aufgehalten hatten, die Einreise nach Polen oftmals verweigert.
Erst nach heftiger Kritik erhielten viele von ihnen Aufenthaltsgenehmigungen – die jedoch nur für wenige Tage galten. Zudem blieben sie von vorübergehendem Schutz und Sozialleistungen in der Regel ausgeschlossen. Taras kritisiert insbesondere, dass noch immer Geflüchtete aus dem Nahen Osten und Afrika nicht über die streng bewachte Grenze von Belarus aus nach Polen gelangen. Alle Geflüchteten sollten jedoch willkommen sein, meint er.