Politischer Zoff in Libyen nach der Flutkatastrophe

Nach der großen Flut

Die Katastrophe von Derna wirft ein Schlaglicht auf Korruption und Misswirtschaft in Libyen.

Seit den verheerenden Auswirkungen des Sturms »Daniel« am 10. September in Libyen mit Tausenden Toten und Vermissten sehen sich die beiden verfeindeten Regierungen im Westen und Osten des Landes heftigen Vorwürfen von Korruption und Misswirtschaft ausgesetzt. Aktivist:innen werfen ihnen vor, die Infrastruktur und die öffentlichen Dienstleistungen vernachlässigt und damit den Tod Tausender Menschen verursacht zu haben. Besonders repressiv gehen die Behörden im Machtbereich des Milizenführers Khalifa Haftar im Osten vor, wo wegen des Bruchs zweier maroder Dämme nahe der Stadt Derna besonders viele Todesopfer zu beklagen sind; Derna war erst 2019 durch Haftars Truppen blutig erobert worden, zuvor war die Stadt in der Hand islamistischer Gruppierungen.

Das ostlibysche Derna steht aus Sicht vieler Menschen in Libyen wie kein zweiter Ort für das Versagen der Behörden. Am Vortag des Sturms begingen diese gleich mehrere schwere Fehler: Sie forderten die Menschen nahe der Küste auf, das Gebiet zu verlassen, ohne für sichere Unterkünfte zu sorgen; gleichzeitig verhängten sie für den Tag des Sturms eine Ausgangssperre. Viele Menschen fuhren deshalb von der Küste zu Angehörigen in die weiter oben gelegenen Gebiete, um bei ihnen zu übernachten. Zahlreiche der dortigen Wohnungen lagen jedoch in einem Wadi, einem ausgetrockneten Flussbett, das von zwei Staudämmen geschützt wurde.

Was die Menschen in Derna nicht wussten: Beide Staudämme waren trotz deutlicher Warnungen seit Jahrzehnten nicht gewartet worden, obwohl bereits seit 30 Jahren Mängel bekannt waren. Sie brachen innerhalb kürzester Zeit unter den Wassermassen zusammen und lösten so eine heftige Flutwelle aus, die nahezu alle Menschen, aber auch Autos und sogar ganze Häuser aus dem Wadi ins Mittelmeer spülte.

Seit diesem folgenschweren 10. September ist Derna entlang des Flussbetts in zwei Hälften geteilt, die meisten Überlebenden haben die Stadt mittlerweile verlassen. Internationale Hilfsorganisationen suchten tagelang nach Überlebenden und kämpften ­gegen den Ausbruch von Krankheiten. Die Zerstörungen sind so groß, dass ­sie den Leiter eines spanischen Hilfsteams zu einem Vergleich mit Hiroshima verleiteten.

Während die Betroffenen noch immer auf Nachrichten über ihre vermissten Angehörigen warten, hat die Suche nach den für die Katastrophe Verantwortlichen begonnen. Alle Seiten reagieren nun mit Schuldzuweisungen, Symbolpolitik oder Repression. Der libysche Generalstaatsanwalt Siddiq al-Sour preschte bei der Aufarbeitung vor. Seine Ermittlungen zielen jedoch nur auf Behördenmitarbeiter, nicht auf Politiker.

Die international anerkannte Regierung in Tripolis verweist auf Versäumnisse der rivalisierenden Regierung im Osten. Zugleich versucht sie, ihre Beliebtheit zu stärken, indem sie Sonderzahlungen für dortige Behördenmitglieder auflegt und nun hastig Staudämme im eigenen Machtgebiet ausbessern lässt. Allerdings kursieren auch Aussagen, die Einwohner von Derna treffe eine Mitschuld an der Katastrophe, da sie so nah am Flussbett gebaut hätten.

Selbst Saif al-Islam Gaddafi, ein Sohn des 2011 getöteten ehemaligen Diktators Muammar al-Gaddafi, schaltete sich in die Debatte ein: Er reklamierte für seine Familiendynastie eine weiße Weste und wies alle Schuld dem Umsturz von 2011 zu.

Die von Khalifa Haftar abhängige Parallelregierung im Osten wiederum verweist auf Versäumnisse unter Gaddafi und die Besetzung Dernas durch Islamisten von 2014 bis 2019, die Instandhaltungsarbeiten behindert habe. Ebenso wird betont, ein türkisches Konsortium sei seit 2007 für die Instandhaltung der Dämme zuständig gewesen. Auch das Repräsentantenhaus in Ostlibyen schaltete sich ein. Es setzte im Rahmen seines Budgetrechts einen eigenen milliardenschweren Notfallfonds auf, verlangt aber direkte Kontrolle über die Auszahlung. Pikant dabei: Der Vorsitzende dieses Kontrollausschusses, Parlamentspräsident Aguila Saleh, wird selbst kritisiert. Er hatte während der Eroberung Dernas durch Haftars Milizen 2019 seinen Neffen als Bürgermeister an die Spitze eines nicht gewählten Stadtrats gesetzt.

Eine Woche nach der Katastrophe versammelten sich in den Trümmern einer Moschee in Derna Hunderte Menschen. Sie forderten den Rücktritt Salehs und seines Neffen sowie des gesamten Parlaments, dabei wurde auch das Haus des Bürgermeisters in Brand gesetzt.

Haftars Ordnungskräfte ließen daraufhin das Internet abschalten, forderten internationale Journalist:innen aus fadenscheinigen Gründen zur Ausreise auf und verhafteten friedliche Demonstrierende. Um den Zorn der Menschen zu beruhigen, traten Salehs Neffe und der Stadtrat von Derna zurück, Kritik an Saleh und Haftar wird jedoch mit Härte begegnet. Dem Milizenführer entgleitet jedoch zusehends die Kontrolle über seinen Machtbereich. In Bengasi brachen nach der Rückkehr eines Stammesführers am Samstag Kämpfe zwischen dessen und Haftars Milizen aus. Haftar lehnt sich deswegen immer stärker an Russland an und ließ sich bei einem Besuch in Moskau bedeutende militärische Zusagen geben, insbesondere für seine Luftwaffe.

Zudem führen die zwei Parlamente in West und Ost ihren Konflikt um die Wahlgesetze fort. Am 2. Oktober verabschiedete das Parlament im Osten ohne Abstimmung mit der UN ein neues Wahlgesetz. Dieses erlaubt allen Personen, bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten, also auch Haftar, Saif al-Islam Gaddafi und dem in Tripolis residierenden Ministerpräsidenten Abdul Hamid al-Dbeiba. Die Antwort des Parlaments im Westen kam prompt: Man wolle den zuvor vorgeschlagenen Kompromiss, der Haftars Kandidatur ausdrücklich ausschließt, weiterhin verwirklichen.