Nicht mehr randständig
Die extreme Rechte in Frankreich beginnt sich in den Augen relevanter Teile der Öffentlichkeit zu »normalisieren«. Zuletzt belegte dies eine im September unter 1 500 Befragten durchgeführte demoskopische Erhebung von Ipsos. Die Ergebnisse wurden vergangene Woche in der Pariser Abendzeitung Le Monde veröffentlicht.
Demnach stufen zwar 66 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen den Rassemblement national (RN) nach wie vor als »rechtsextrem« ein. 2015 waren es allerdings noch 78 Prozent. Befragt danach, ob die Partei »eine Gefahr für die Demokratie« darstelle, antworten nur noch 52 Prozent mit »Ja«. Noch vor einigen Jahren taten dies regelmäßig zwei Drittel der Befragten. Bezogen auf eine andere Partei, die linkspopulistische Wahlplattform La France insoumise (LFI, Das unbeugsame Frankreich), wurde dieselbe Frage von 57 Prozent bejaht. Und bei der Frage danach, welche Partei die Werte einer Gesellschaft verkörpere, »in welcher man leben möchte«, kommt der RN zwar nur auf 36 Prozent, doch landet er damit auf dem ersten Platz vor den weithin als »Wertepartei« wahrgenommenen Grünen, die mit 34 Prozent auf dem zweiten Rang landeten.
Dass Vertreter bürgerlicher Parteien kaum noch Abstand zu den Rechts- extremen halten, macht es diesen einfacher.
Kürzlich stellte das Institut Elabe zudem fest, dass sich das Image von Marine Le Pen, der Führungsfigur und mehrfachen Präsidentschaftskandidatin der RN, stark verbessert habe. Fast die Hälfte der befragten Franzosen sei inzwischen der Ansicht, dass sie die Qualitäten habe, die es für die Präsidentschaft brauche. Nachdem auf der italienischen Insel Lampedusa in kurzer Zeit Tausende Flüchtlinge angekommen waren, befragte Elabe im September Umfrageteilnehmer danach, wem sie zum Thema Einwanderung noch Vertrauen schenkten. Dabei kam Marine Le Pen mit 38 Prozent Zustimmung auf den ersten Platz, der ebenfalls rechtsextreme Éric Zemmour auf den zweiten mit 25 Prozent. Staatspräsident Emmanuel Macron vertrauten demnach bei dem Thema 21 Prozent, Jean-Luc Mélenchon (LFI) 17 Prozent.
Dass Vertreter bürgerlicher Parteien kaum noch Abstand zu den Rechtsextremen halten, macht es denen unterdessen noch einfacher. Am 30. September organisierte die neu gegründete rechtsextreme Zeitschrift Livre noir eine Reihe von öffentlichen Streitgesprächen zum Thema Einwanderung in Paris. Neben Zemmour und einem RN-Abgeordneten in der Nationalversammlung, Julien Odoul, diskutierten dort auch der Parteisprecher der konservativen Partei Les Républicains (LR), Vincent Jeanbrun, und ein prominenter Vertreter des Macron’schen Regierungslagers, der frühere Sportjournalist und heutige Parlamentsabgeordnete Karl Olive.
Am Dienstag vorige Woche sagte der Abgeordnete Meyer Habib, der – ohne die Parteimitgliedschaft zu besitzen – der Fraktion der LR in der Nationalversammlung angehört: »Der Rassemblement national ist im republikanischen Lager angekommen«, die Reaktion der Partei nach dem Überfall der Hamas auf Israel sei »untadelig« gewesen. Habib sitzt für den achten Wahlkreis der Auslandsfranzosen in der Nationalversammlung, er vertritt die französischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die in Italien, Malta, Griechenland, in der Türkei und in Israel wohnen. Die größte Gruppe der dort Wählenden besteht aus französisch-israelischen Doppelstaatsangehörigen. Habib ist ein wichtiges Bindeglied zwischen den französischen bürgerlichen Parteien und der israelischen Rechten, er hat gute Verbindungen zum israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu. Umso bedeutender erscheint deshalb seine Erklärung zur Einstufung der RN.
Anlass für Meyer Habibs Äußerung über den RN waren die jüngsten Stellungnahmen der Partei nach den Angriffen der Hamas. Im Gegensatz zur jüngeren Vergangenheit des RN respektive des Front national (FN) – so hieß die Partei vor der Umbenennung 2018 – reihte sich die rechtsextreme Partei diesmal weitgehend reibungslos in die konsensuale Verurteilung der Terrorangriffe durch die staatstragenden Parteien ein.
Das war nicht immer so. 1995 etwa hatte sich die damalige FN-Fraktion im Pariser Stadtrat geweigert, einer Resolution zu damaligen Attentaten der Hamas zuzustimmen, unter anderem weil ausländische Themen grundsätzlich nichts im Stadtparlament zu suchen hätten. Manche Protagonisten des seinerzeitigen Front national, wie der sich als »Nationalbolschewist« bezeichnende Kader Christian Bouchet in Nantes, bezogen sich positiv sowohl auf das iranische Regime als auch auf die palästinensische Hamas, die er als nationalrevolutionäre Kräfte wahrnahm. Diese Position war innerparteilich in der Minderheit, jedoch fester Bestandteil des Parteimilieus.
In diesem Jahr verurteilte der RN die Attacken der Hamas umgehend und verkündete, ohne dass es abweichende Wortmeldungen gegeben hätte, seine »Solidarität« mit den Opfern und darüber hinaus mit dem Staat Israel. Am Montag voriger Woche beteiligten sich Abgeordnete des RN an der Solidaritätsdemonstration für Israel in Paris, an der laut offiziellen Angaben rund 16 000 Menschen teilnahmen. Mit dabei waren vor allem Vertreter der jüdischen Gemeinden sowie der staatstragenden Parteien. Marine Le Pen sowie der Parteivorsitzende des RN, Jordan Bardella, blieben dem Ereignis fern, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen und dadurch womöglich Ablehnung zu provozieren. Doch mehrere Parlamentarier des RN, die der parlamentarischen Freundschaftsgesellschaft Frankreich–Israel angehören, nahmen teil. Unter ihnen war der ostfranzösische Abgeordnete Julien Odoul; einige Teilnehmer nahmen Selfies mit ihm auf.
Pfiffe ernteten nicht die RN-Abgeordneten, sondern der sozialdemokratische Parteivorsitzende Olivier Faure und seine Parteikollegin, die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Zwar weist der Parti socialiste (PS) eine bedeutende Tradition bei der Unterstützung Israels auf, aber die Unmutsbekundungen galten auch nicht unmittelbar ihnen. Vielmehr empörte die Tatsache, dass der PS in der Nationalversammlung mit der linkssozialdemokratischen und linkspopulistischen Bewegung LFI zusammenarbeitet. Letztere zeigt sich derzeit, ebenso wie auch andere Teile der Linken, zutiefst zerstritten in ihrer Haltung zum israelisch-palästinensischen Konflikt.
Vor diesem Hintergrund schafft es der jedenfalls vordergründig weder zerstrittene noch zögerliche RN, sich mit einer scheinbar blütenweißen Weste in Sachen Antisemitismus der Öffentlichkeit zu präsentieren. Unter dem Parteigründer und früheren Vorsitzenden von 1972 bis 2011, Jean-Marie Le Pen, wäre das noch undenkbar gewesen; Le Pen war für seine antisemitischen Ausfälle berüchtigt und wurde deshalb 2015 aus der Partei ausgeschlossen.
Der Privatfernsehsender Cnews, der politisch als französische Variante von Fox News gilt und bei dem früher Éric Zemmour Chefkommentator war, teaserte vorige Woche: »LFI: Der Nazismus ist auf die Linke übergangen«. Das dient dem Zweck, dem RN und der extremen Rechten insgesamt zum Thema Antisemitismus einen Persilschein auszustellen.