Der politische Umgang mit der »Halloween-Katastrophe« in Seoul

Verantwortung? Fehlanzeige

Ein Jahr nach der Halloween-Katastrophe in Seoul wurden noch keine Verantwortlichen ausgemacht – stattdessen kommen indirekte Schuldzuweisungen an die Opfer auf.

Ausgelassene Feierstimmung zu Halloween will in Seouls Ausgehviertel Itaewon dieses Jahr nicht recht aufkommen. Stattdessen wimmelt es wie schon in den Tagen zuvor in den Seitengassen der Itaewon Street und World Food Street, die das Zentrum des Nachtlebens bilden, von Polizisten und Hilfskräften, die mit blinkenden Leuchtstäben den Fußgängerfluss kontrollieren. Feuerwehr- und Rettungswagen reihen sich auf der Hauptstraße. Die Lage wirkt angespannt – wer kurz stehenbleibt, wird zum Weitergehen gemahnt.

In einer dieser kleinen Seitengassen starben vor einem Jahr 159 meist junge Menschen bei einem Massengedränge. Die »Halloween-Katastrophe« vom 29. Oktober 2022 war eines der schlimmsten Unglücke in der Geschichte Südkoreas seit dem Waffenstillstand im Korea-Krieg 1953.

Gerade wegen der zahlreichen Fernsehteams, die rund um den Jahrestag die Umgebung der mittlerweile zur »Erinnerungsstraße« erklärten Gasse aufsuchten, bemühte sich die Stadtverwaltung, Kon­trolle über die Situation zu zeigen. Vor einem Jahr gab es das nicht. Insgesamt waren nur 60 Polizisten eingesetzt, während sich in den Straßen und Clubs der unmittelbaren Umgebung etwa 100.000 Menschen zum Feiern versammelt hatten. Obgleich ein interner Bericht auf das Risiko hingewiesen hatte, ergriff die Polizei keiner­lei Maßnahmen zur Kontrolle der Menschenströme.

Auch illegal errichtete Terrassen von anliegenden Gastronomiebetrieben und eine Metallkonstruktion des Hamilton-Hotels, die die Seitengasse unter die gesetzlich vorgeschriebene Mindestbreite verengten, wurden nicht beseitigt. Kim Young-ook, Experte für Massenbewegungen der Sejong-Universität in Seoul, kommt zu dem Schluss: »Wenn man nur den Ort begutachtet und mögliche Gegenmaßnahmen besprochen hätte, hätte jeder, der über Instinkt und Erfahrung verfügt, die Situation vorhersehen können.«

Die ersten Notrufe, die am Tag der Katastrophe die Polizei erreichten, wurden nicht ernst genommen, obwohl es schon Verletzte gab. Nach den ersten Todesfällen dauerte es eine halbe Stunde, bis die Straße gesperrt und der Zufluss weiterer Menschen verhindert wurde. Notärzte kamen erst spät, da die Kliniken die Rettungswagen ihrer privaten Dienstleister anfordern mussten.

Präsident Yoon will seine schlechten Beliebtheitswerte durch die Einigung konservativer Kräfte verbessern; für die Menschen mit eher liberalen Lebensentwürfen, die dem Polizeiversagen in Itaewon zum Opfer fielen, hatte er nur wenige warme Worte bei einer Gedenkmesse übrig.

Für das systematische Behördenversagen übernimmt bislang niemand die Verantwortung. Die Angehörigen der Opfer und die Überlebenden warten auf eine offizielle Entschuldigung. Kein hochrangiger Beamter wurde bisher bestraft, Verlautbarungen der ­Regierung lassen Einsicht vermissen. Innenminister Lee Sang-min sagte am Tag nach dem Unglück, dieses hätte auch durch den Einsatz von mehr Polizei und Rettungskräften nicht verhindert werden können, wofür er sich erst zwei Monate später entschuldigte. In einem Dokument des Innenministeriums wurde angeordnet, anstelle von »Opfern« von »Verlusten und Verstorbenen« zu sprechen, ­wobei das Geschehen als Unfall bezeichnet wurde.

Die Arbeit der parlamentarischen Untersuchungskommission war von politischen Machtkämpfen geprägt. Die regierende konservative PPP hatte erst nach anfänglicher Weigerung einer Untersuchung zugestimmt; die sozialliberale Oppositionspartei DPK erklärte, eine Untersuchung sei nicht möglich, solange der Innenminister im Amt bleibe. Da Lee den Rücktritt verweigerte, stimmte die DPK mit ihrer Parlamentsmehrheit (auf eine solche muss sich die Regierung aufgrund des südkoreanischen Präsidialsystems nicht stützen) für seine Amtsenthebung, die das Verfassungsgericht später wieder aufhob.

Präsident Yoon Suk-yeol blieb sogar der Gedenkfeier zum Jahrestag fern, was er mit deren politischem Charakter begründete. Vier Tage vorher hatte er an einer Gedenkfeier zum 44. Todestag des Diktators Park Chung-hee teilgenommen, der das Land von 1962 bis zu seiner Ermordung 1979 regiert hatte, was noch kein amtierender Präsident vor ihm getan hatte. Yoon will seine schlechten Beliebtheitswerte durch die Einigung konservativer Kräfte verbessern; für die Menschen mit eher liberalen Lebensentwürfen, die dem Polizeiversagen in Itaewon zum Opfer fielen, hatte er nur wenige warme Worte bei einer Gedenkmesse übrig.

Bei den Ermittlungen wurden sichergestellte Gegenstände auf Drogenreste geprüft und Angehörige gebeten, Drogentests bei der Autopsie zuzustimmen. Im September behauptete der PPP-Vorsitzende Kim Gi-hyeon, Kerzenlichtmahnwachen würden auf Befehl Nordkoreas stattfinden.

Es mangelt noch immer an Aufklärung und Entschädigung für die Opfer. Die Stadtplanung in dem rapide gentrifizierten Viertel wird nicht überdacht und bislang wurde als Konsequenz lediglich ein unbedeutendes Gesetz angenommen. Es scheint, als wolle die ­Regierung die Opfer selbst für schuldig erklären, um sich vor der Verantwortung zu drücken, womit sie, weil es sich bei den Opfern vor allem um junge Menschen in dem am buntesten gemischten Viertel Südkoreas handelt, die Erinnerung an die Katastrophe zum Politikum macht.