Influencer gegen Israel
Schon lange vor dem 7. Oktober stellte der Umgang mit antisemitischen Videos, Memes und sogenannten Infoslides in sozialen Medien ein Problem dar. Auch früher schon führte jede Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts zuverlässig zu einer Zunahme antisemitischer Inhalte in sozialen Medien. Anhand des Israel-Gaza-Konflikts im Mai 2021 hat dies zum Beispiel die Amadeu-Antonio-Stiftung in ihrem »De:Hate-Report #3« rekonstruiert.
Doch das jüngste Massaker der islamistischen Terrormiliz Hamas hat auch in Deutschland eine beispiellose Verschärfung in den sozialen Medien ausgelöst. Dort findet die Mobilmachung gegen Israel noch mehr als auf der Straße statt. Daran beteiligt sind nicht nur islamistische Gruppen wie Generation Islam und einschlägig bekannte Figuren wie der Salafist Pierre Vogel, der einstige Manager Bushidos, Arafat Abou-Chaker, oder der Möchtegernpolitiker Jürgen Todenhöfer, sondern auch Influencer, die sich normalerweise eher über Kosmetik und Fitnesstipps äußern.
Einer von ihnen ist Serhat Sisik, auf Tiktok bekannt unter dem Namen »Aggressionsprobleme«. Mit 645.000 Followern dort und 132.000 auf Instagram verfügt der Berliner über eine enorme Reichweite. Sein erstes Tiktok-Video lud er am 25. Juni 2020 hoch, seitdem hat er Hunderte Videos veröffentlicht, für die er bisher insgesamt 27,5 Millionen Likes erhalten hat. Seine Reichweite bezeichnet Sisik als »Segen Allahs«. Daraus leitet er eine Verpflichtung ab. Wer als Influencer nur »Profite machen« wolle, statt zum Beispiel »über Palästina zu posten«, sagte er kürzlich in einem Video, werde früher oder später »dafür bezahlen«, dafür werde Allah sorgen.
Die Influencerin Nora Achmaoui berichtet, ihr sei »in der Schule schon beigebracht« worden, dass es den Deutschen verboten sei, »die Wahrheit« über Israel auszusprechen.
Videos, in denen er sich über die vermeintlichen Verbrechen Israels auslässt, hat Sisik schon vor dem 7. Oktober gedreht. Doch seit dem Überfall der Hamas kennt er kaum mehr ein anderes Thema. Auch der Charakter seiner Videos hat sich verändert: Verschwunden sind die zuvor häufig ironisch-lockeren Videos, stattdessen sieht man ihn nur noch mit ernster Miene vor dem Mikrophon oder im Auto sitzen und über das berichten, was »die Medien« angeblich verschweigen. Demnach habe Israel beispielsweise den Internetzugang des Gaza-Streifens, der durch die Bombardierung terroristischer Ziele in Gaza vorübergehend ausgefallen war, bewusst »gekappt«, um keine Informationen über »den Genozid« an die Außenwelt dringen zu lassen.
In einem Video kritisiert er die angeblich einseitig proisraelische Berichterstattung deutscher Medien. Während er spricht, blendet er ein Bild ein, das Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeigt, der im Rahmen einer jüdischen Gedenkveranstaltung eine Kippa trägt. Die antisemitische Vorstellung »jüdisch kontrollierter« Medien und Politik wird so heraufbeschworen, ohne sie explizit auszusprechen.
Sisiks Behauptung, jedweder propalästinensische Protest werde in Deutschland mundtot gemacht, kommt nicht ohne NS-Vergleiche und -verharmlosungen aus. »Leute, wir sind im Dritten Reich angekommen«, ereifert er sich etwa in einem Video vom 24. Oktober: »Uns wird der Mund verboten. Wir dürfen keine friedlichen Demonstrationen machen!«
Wie wahnhaft das ist, zeigen nicht nur Sisiks Follower-Zahlen und die Millionen Likes für seine Beiträge. Im ersten Monat nach dem Hamas-Überfall gab es dem Bundesinnenministerium zufolge 450 »propalästinensische Versammlungen« – im selben Zeitraum habe es 413 »proisraelische Versammlungen« gegeben. Sisik selbst trat auf israelfeindlichen Veranstaltungen immer wieder als Redner auf. Am 4. November sprach er auf einer entsprechenden Demonstration in Düsseldorf vor 17.000 Menschen, bei der auch Jürgen Todenhöfer als Redner auftrat.
Während Influencer wie Sisik aus ihren Verschwörungsphantasien keinen Hehl machen, vermischen andere ihre antisemitischen Botschaften mit sanftem Lifestyle-Content. Der Israelhass wird dabei niedrigschwellig für ein weniger politisiertes Publikum präsentiert.
Während Influencer wie Sisik aus ihren Verschwörungsphantasien keinen Hehl machen, vermischen andere ihre antisemitischen Botschaften mit sanftem Lifestyle-Content. Der Israelhass wird dabei niedrigschwellig für ein weniger politisiertes Publikum präsentiert. Ein Beispiel ist die in Dubai lebende deutsche Influencerin und Unternehmerin Nora Achmaoui. Auf ihrem Tiktok-Kanal, dem 2,2 Millionen Menschen folgen, postete sie gemeinsam mit ihrem Mann Khalid Alherani vor allem Sketch-Videos über Ehe und Partnerschaft. Seit dem 7. Oktober finden sich in ihrem Feed aber vor allem Videos, die den Zuschauern einen »Genozid an den Palästinensern« unterzujubeln versuchen. Achmaoui bleibt dabei ihrem fröhlich-lockeren Tiktok-Stil treu. Zum Beispiel zeigt ein Video, wie sie entspannt lächelnd im Auto sitzend einen Eiskaffee schlürft: »Wisst ihr, wonach das schmeckt? Nach einem Unternehmen, das keinen Genozid unterstützt.«
Sie bezieht sich damit auf einen weltweiten Boykottaufruf gegen die Kaffeekette Starbucks. Die Gewerkschaft Starbucks Workers United hatte in den sozialen Medien nach dem 7. Oktober ihre »Solidarität mit Palästina« erklärt. Begleitet war das von einem Foto eines Bulldozers der Hamas, der den Grenzzaun um Gaza niederreißt. Dem war Starbucks mit einer eigenen Erklärung entgegengetreten, was weltweit Hass provozierte. Auch in Berlin wurden nach einer antiisraelischen Demonstration am 4. November die Besucher einer Starbucks-Filiale bedrängt und beschimpft.
Boykottaufrufe trafen neben Starbucks auch andere Konzerne wie McDonald’s – auf der Website von BDS findet sich eine ganze Liste. Doch besonders Starbucks, dessen Hauptaktionär der jüdische US-Amerikaner Howard Schultz ist, wird schon seit vielen Jahren vorgeworfen, Israel finanziell zu unterstützen. Dabei unterhält der Konzern seit 2003 nicht einmal mehr Filialen in dem Land.
Am 11. Oktober, vier Tage nachdem Hamas-Terroristen nach Israel eingedrungen waren und circa 1.200 Israelis grausam ermordeten, postete Achmaoui Fotos von sich und ihrem Mann vor dem Grenzzaun, der Israel von den palästinensischen Autonomiegebieten trennt, mit der Bildunterschrift: »Wir waren einem freien Palästina wahrscheinlich nie näher.«
In ihren Instagram-Storys berichtet Achmaoui, ihr sei »in der Schule schon beigebracht« worden, dass die Deutschen eine »Urschuld« auf sich geladen hätten, die es ihnen verbieten würde, »die Wahrheit« über Israel auszusprechen. Derartiges Schlussstrich- und Schuldkult-Gerede ist in Deutschland bekanntermaßen überaus anschlussfähig – inzwischen auch immer mehr an Universitäten.
Achmaouis Instagram-Video erinnert auch an die These des Historikers Dirk Moses, der das Gedenken an die Shoah als »Katechismus der Deutschen« schmähte. Dass derlei sich nicht auf das Internet beschränkt, verdeutlichten erst kürzlich die »Free Palestine from German guilt!«-Rufe junger Demonstranten vor dem deutschen Außenministerium.
Wer nicht in sozialen Medien unterwegs ist, bekommt von der Dynamik antisemitischer Mobilmachung oft wenig mit. Zu der tragen die Empfehlungsalgorithmen von Plattformen wie Tiktok bei, die immer wieder ähnliche Videos nachliefern. Die Gefahr gehe jedoch in erster Linie nicht von den Plattformen aus, sondern vom Antisemitismus selbst, sagt Theresa Lehmann von der Amadeu-Antonio-Stiftung der Jungle World. Die Plattformen begünstigten lediglich die Verbreitung von Desinformation und Propaganda. Vor allem junge Menschen, die sich gerade politisieren, verfielen rasch einer Art Copy-Paste-Aktivismus, so Lehmann. Die Kurzvideos auf Tiktok zeichnen sich besonders durch das Zusammenspiel von Klang und Bildern aus, oft mit sympathisch wirkenden Identifikationsfiguren, was starke Affekte begünstigt.
Seit Beginn der Covid-19-Pandemie hätten auch Islamisten ihre Aktivitäten weitgehend auf Social Media verlagert, berichtet der Islamwissenschaftler Ahmad Omeirate.
Die sozialen Medien scheinen wie dafür gemacht zu sein, Antisemitismus zu verbreiten. Denn dieser zeichnet sich gerade durch seine affektive Struktur aus, mit der ein psychischer Gewinn verbunden ist: Die Schaffung eines konkreten Feindbilds leistet scheinbare Abhilfe für ein real empfundenes Unbehagen an gesellschaftlichen Zwängen und Verhältnissen – was Sigmund Freud einst als »Schiefheilung« bezeichnete. Die Grundstimmung, die dadurch geschaffen wird, dass die verschiedensten Kanäle und Influencer im Internet stets dasselbe Feindbild präsentierten, vermittelt das Gefühl, »auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, wenn man sich gegen Israel ausspricht«, so Lehmann dazu.
Seit Beginn der Covid-19-Pandemie hätten auch Islamisten ihre Aktivitäten weitgehend auf Social Media verlagert, berichtet der Islamwissenschaftler Ahmad Omeirate der Jungle World. Dabei seien sie äußerst erfolgreich. »Online erreichen sie eine Vielzahl von Menschen, die sie sonst kaum erreicht hätten. Diese treffen online auf verschiedene extremistische Imame, radikalisieren sich und werden nun aktiv.«
Was im Netz passiert, kann sich schon bald auf den Straßen manifestieren und sollte deshalb ernst genommen werden. Serhat Sisik zumindest gibt sich siegessicher, wie am 16. Oktober: »Es ist uns egal, wie ihr berichtet und wie ihr die ganzen Tatsachen verdrehen wollt. Denn am jüngsten Tag des Gerichts werdet ihr alle dafür bezahlen.« Am yaum al-qiyama, dem Tag der Auferstehung, »werden wir die Gewinner sein. Also genießt euer Leben, solange ihr noch könnt.«