Zweifelhafte Zweifel an der Selbstbezeichnung des argentinischen Präsidenten

Selbst ist der Ernenner

Sprachkolumne. Ein Anarchokapitalist braucht kein Diplom.
Das letzte Wort Von

Als Javier Milei zum argentinischen Präsidenten gewählt wurde, stürzten sich die Medien nur so auf ihn: Nicht nur hatte er mit dem Einfall, eine Kettensäge als Wahlkampfrequisit zu verwenden, ein glückliches Händchen bei der Selbstinszenierung bewiesen, er bezeichnet sich auch noch als Anarchokapitalist. Ein Knüller! Allerdings wollte sich kaum jemand dazu herablassen, diese Selbstzuschreibung einfach zu übernehmen; vielmehr konnte man allüberall, von FAZ über NZZ, Spiegel, Der Standard und T-Online bis zu Jacobin, lesen, Milei sei ein »selbsternannter« Anarchokapitalist.

Das wirft die Frage auf, wer denn für eine ordnungsgemäße Ernennung zum Anarchokapitalisten zuständig wäre. Es gibt selbsternannte Weltmeister und Doktorinnen und einen selbsternannten König von Deutschland, aber zum Anarchokapitalisten wird man nicht ernannt. Vielmehr handelt es sich um ein Bekenntnis: Ob Milei ein solcher ist, hängt einzig von ihm selbst ab, genauer gesagt von seinen Überzeugungen und seinem Handeln. Das Adjektiv »selbsternannt« taugt seiner Bedeutung nach weder dazu, jemandes Bekenntnis mitzuteilen, noch dazu, es in Zweifel zu ziehen oder sich von ihm zu distanzieren.

Im Fall Mileis stellt sich die Frage, warum sein Bekenntnis zum Anarchokapitalismus in den Medien nahezu reflexhaft durch den Zusatz »selbsternannt« relativiert wird.

Dass das Wort dennoch seit langem in diesem Sinn verwendet wird, liegt auch an einem Mangel im deutschen Wortschatz: Was sich auf Englisch schlicht mit »self-described« ausdrücken lässt, erfordert im Deutschen einen umständlichen Relativsatz (wie »der sich selbst als Genie bezeichnet« oder »die sich für eine Geistheilerin hält«). Dem Mangel lässt sich zwar abhelfen, indem man das Wort »selbstbezeichnet« verwendet, doch riskiert man damit, mangels lexikalischer Autorisierung als selbsternannter Wortschöpfer geschmäht zu werden.

Im Fall Mileis stellt sich zudem die Frage, warum sein Bekenntnis zum Anarchokapitalismus in den Medien nahezu reflexhaft durch den Zusatz »selbsternannt« relativiert wird. Man mag es seltsam finden, den Staat abzulehnen und dennoch als Staatsoberhaupt zu kandidieren, aber widersprüchlich ist es nicht; der Anarchie kommt man schließlich nicht einfach dadurch näher, dass man ganz dolle gegen Staaten ist.

Tatsächlich interessiert sich kaum ein Artikel für etwaige Gründe, an Mileis Selbstbezeichnung zu zweifeln. Sie wird vielmehr behandelt wie die Kettensäge: als Kuriosität, der man keinen politischen Gehalt zutrauen will.