Costa Rica droht die Entwicklung zum Narco-Staat

Paradise Lost

Costa Rica hat 2023 das mörderischste Jahr seiner jüngeren Geschichte erlebt. Lange eines der friedlichsten Länder Lateinamerikas, herrscht in Costa Rica zusehends die Gewalt des organisierten Verbrechens.

»Ein noch gewalttätigeres Land« werde Costa Rica schon in unmittelbarer Zukunft sein, sagte der Historiker Iván Molina Jiménez im März 2022 im Interview voraus.

Wie heftig und schnell sich seine Prognose bewahrheitet hat, dürfte auch Molina Jiménez erstaunen. Am 2. Januar verkündete Randall Zúñiga, Leiter der Gerichtlichen Ermittlungsbehörde (OIJ), die offiziellen Kriminalitätsstatistiken für 2023. Die Polizeibehörden des zen­tralamerikanischen Landes zählten 907 Morde, ein Anstieg um 38 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, das bereits den vorherigen Höchststand überboten hatte. Die Rate betrug somit 17,2 Morde pro 100.000 Einwohner:innen, was Costa Rica in die Nähe der gefährlichsten Länder der Welt mit den höchsten Mordraten rücken lässt.

Costa-Ricas Innenministerium gibt an, dass die Zahl bekannter Banden zwischen 2012 und 2023 von 40 auf 340 gestiegen sei.

Noch vor wenigen Jahren zählte Costa Rica zu den ruhigsten und sichersten Ländern Lateinamerikas. Nachdem 1948 die Streitkräfte abgeschafft worden waren, überstand Costa Rica als einziges Land des Subkontinents die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne bewaffneten Konflikt, Staatsstreich oder Diktatur. Insbesondere bei Ökotourist:innen ist Costa Rica in der vergangenen Jahrzehnten zu einem beliebten Reiseziel geworden. Die Costa-Ricaner:innen selbst bezeichnen ihr Land gerne als »die Schweiz Zentralamerikas«, auch um sich damit von den Nachbarländern abzusetzen. Schließlich ist Zentralamerika neben der Karibik die Region mit den höchsten Mordraten der Welt. Doch während in der Region zuletzt ein Rückgang der Gewalt zu verzeichnen war, hat Costa Rica in den vergangenen zwei Jahren einen Anstieg an Gewalt­taten erlebt.

Rund zwei Drittel der 2023 im Land verübten Morde führen die Behörden auf Kämpfe zwischen Gruppierungen des organisierten Verbrechens zurück. Auf der Suche nach Ursachen verweisen Politiker:innen und Medien gerne auf den internationalen Drogenhandel. Seit in Kolumbien 2016 die Regierung und die linke Guerilla Farc Frieden schlossen, hätten die kolumbianischen Drogenkartelle den internationalen Markt mit Kokain geflutet. Costa Rica sei als Transitland wegen seiner gut ausgebauten Karibik- und Pazifikhäfen und aufgrund seiner geographischen Lage zwischen den Anbauländern in Südamerika und den Absatzmärkten in Nordamerika und Europa zwangsläufig von diesen Entwicklungen betroffen, so heißt es. Und in den vergangenen Jahren wurden in costa-ricanischen Häfen tatsächlich immer neue Rekordmengen geschmuggelter Rauschmittel wie Cannabis und Kokain gefunden.

Doch Expert:innen verweisen auch auf eine Vielzahl hausgemachter Probleme. Die investigative Medienorganisa­tion Insight Crime zählt bei fünf Millionen Einwohner:innen und einer Landesfläche, die der Niedersachsens entspricht, 13 wenig koordinierte Polizeiorganisationen. Auch häufen sich die Fälle, in denen Angehörige der costa-­ricanischen Ordnungskräfte der Zusammenarbeit mit dem organisierten Verbrechen überführt werden. Dabei gilt die Polizei des Landes im regionalen Vergleich als professionell und wenig anfällig für Korruption und genießt in der Bevölkerung ein außerordentlich hohes Vertrauen.

Doch Beobachter:innen sehen erste Züge der Unterwanderung des Staatsapparats durch das organisierte Verbrechen, wie sie in vielen Ländern Lateinamerikas bereits weit fortgeschritten ist. Die Boulevardzeitung Diario Extra, eine der meistgelesenen Zeitungen des Landes, betitelte ihre Ausgabe vom 15. Januar bereits mit »Costa Rica läuft Gefahr, ein Narco-Staat zu werden«.

Am 27. September hatte die mexikanische Zeitung El Universal die Angst vieler Costa-Ricaner:innen befeuert, dass ihr Land kurz davor stehe, vom internationalen Verbrechen dominiert zu werden: »Zentrale Persönlichkeiten der ­Sicherheitsorgane« hätten insgeheim mit Banden verhandelt, die mit den zwei mächtigsten mexikanischen Drogenkartellen in Verbindung stehen, dem Sinaloa-Kartell und dem Cártel de Jalisco Nueva Generación. Costa Ricas rechtspopulistischer Präsident Rodrigo Chaves wies die Vorwürfe als »absurdes Märchen« zurück. Wenngleich El Universal konkrete Quellen und Beweise schuldig blieb, kündigte die costa-ricanische Staatsanwaltschaft an, den Anschuldigungen nachzugehen.

Andere Quellen relativieren den Einfluss kolumbianischer und mexikanischer Drogenkartelle auf die rasant steigende Gewaltkriminalität in Costa Rica. So gibt das Innenministerium an, dass die Zahl bekannter Banden zwischen 2012 und 2023 von 40 auf 340 gestiegen sei. Der derzeitige Gewaltausbruch sei vorrangig durch Territorialkonflikte zwischen diesen Gruppen zu erklären. Gustavo Mata, von 2015 bis 2018 costa-­ricanischer Innenminister, sprach im Radiosender Monumental davon, dass die Banden intensiv junge Männer rekrutierten. Die große Mehrheit der Mordopfer sowie der Täter sind Männer im Alter von 18 bis 29 Jahren.

Fernando Villalobos Chacón, Dekan der pädagogischen Fakultät der Nationalen Technischen Universität (UTN), spricht von der Armut als der »Mutter der Kriminalität«. In Costa Rica sei eine »verlorene Generation« herangewachsen, die in einer dauerhaften Wirtschaftskrise nur »die Verschärfung neoliberaler Politik« und das Fehlen staatlicher Unterstützung erlebt habe.

Forscher:innen der Universität von Costa Rica gehen davon aus, dass das Land die höchste Jugendarbeitslosenquote in ganz Lateinamerika aufweist.

Bereits vor Beginn der Covid-19-Pandemie galten 20 Prozent der costa-ricanischen Bevölkerung als arm. Dieser Anteil ist durch die Rezession der zurückliegenden Jahre weiter gewachsen, die das von Tourismus und Exporten abhängige Land so hart getroffen hat wie kaum ein anderes. Die Regierung behauptet, die Arbeitslosenquote sei 2023 auf zehn Prozent gefallen, doch kalkulieren Forscher:innen der Universität von Costa Rica (UCR) mit viel höheren Zahlen.

Viele Menschen hätten sich mittlerweile wegen fehlender Per­spektiven gänzlich vom Arbeitsmarkt zurückgezogen. Sie schätzen die Zahl »wirtschaftlich Inaktiver« auf über 40 Prozent. In ihrem Radiosender geht die UCR davon aus, dass Costa Rica die höchste Jugendarbeitslosenquote in ganz Lateinamerika aufweist. Das immer noch bestehende Bild von sozialer Gleichheit und Teilhabe weiter Teile der Gesellschaft entspricht in keiner Weise mehr der wirtschaftlichen Entwicklung, die auch von scharfen neo­liberalen Reformen geprägt ist.

In öffentlichen Debatten wird darüber kaum gesprochen. Präsident Chaves steht mit seiner law and order-Politik in unmittelbarem Wettbewerb mit einer absoluten Parlamentsmehrheit rechter Oppositionsparteien, die sich nun darin überbieten, nach der mano dura (harten Hand) zu rufen. Dabei verweisen sie auf Ecuador und El Salvador. Ecuador zählte wie Costa Rica lange zu den sichersten und stabilsten Ländern Lateinamerikas, ist jedoch in den vergangenen Jahren durch die Gewalt des organisierten Verbrechens zu einem der gefährlichsten Länder der Welt geworden. Die ehemalige Präsidentin Costa Ricas, Laura Chinchilla (2010–2014), und das konservative Leitme­dium La Nación haben bereits auf eine »parallele Entwicklung« Costa Ricas und Ecuadors hingewiesen.

Ein neu eingeweihtes »Mega­gefängnis« in El Salvador mit einer Kapazität von 40.000 Häftlingen hat es der lateinamerikanischen Rechten angetan, auch der costa-ricanischen.

Die jüngsten Entwicklungen in El Salvador erscheinen vielen als nachahmenswert. Von Bandenkriminalität ­geplagt, war das Land über viele Jahre mit Mordraten von teils über 100 pro 100.000 Menschen das tödlichste Land der Welt, in dem kein Krieg oder Bürgerkrieg herrschte. Der autoritär regierende Präsident Nayib Bukele hat am 27. März 2022 einen bis heute gültigen Ausnahmezustand verhängt, in dessen Zuge Zehntausende vermeintliche und tatsächliche Bandenmitglieder im Gefängnis verschwunden sind. Insbesondere ein neu eingeweihtes »Mega­gefängnis« mit einer Kapazität von 40.000 Häftlingen hat es der lateinamerikanischen Rechten angetan, auch der costa-ricanischen.

Leslye Bojorges, Abgeordneter für den konservativen Partido Unidad Social Cristiana (PUSC), forderte nach dem Besuch eines örtlichen Gefängnisses, Costa Rica solle ein Riesengefängnis nach dem Vorbild El Salvadors bauen. Gilbert Jiménez vom rechtssozialdemokratischen Partido Liberación Nacional (PLN) forderte Präsident Chaves, womöglich auch mit Blick auf El Salvador, dazu auf, den Notstand auszurufen. Denn Costa Rica hat erneut einen traurigen Rekord gebrochen: In den ersten acht Tagen des Jahres wurden bereits 19 Morde verübt, fünf mehr als im entsprechenden Zeitraum 2023.