Mittwoch, 27.09.2017 / 23:27 Uhr

Brief aus Suleymaniah: Warum die Skepsis über das Referendum?

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Da ich in den letzten Tagen einige Mails bekommen habe, die mir vorwarfen, ich verrate nun die kurdische Sache, weil ich mich öffentlich alles andere als euphorisch über das Referendum geäußert habe, möchte ich einige doch eher persönliche Gedanken zur Lage loswerden. Sie sind sozusagen als Antwort auf diese Mails gedacht:

Sehr geehrter XY,

Sie fragen, wie es sein könne, dass ausgerechnet ich, der nun seit fast 25 Jahren in Irakisch Kurdistan tätig ist, nicht das Unabhängigkeits-Referendum vom vergangenen Montag aus ganzem Herzen unterstütze. Ich klänge gar, las ich, als mache ich gemeinsame Sache mit der Türkei und dem Iran, die ja auch diese Abstimmung ablehnten und man sei enttäuscht von mir.

Das mag sein, damit kann ich leben.

Ich aber habe ein paar Gründe, so skeptisch zu sein und einige möchte auf die Schnelle mit Ihnen teilen:

Stand eigentlich akut irgendetwas auf dem Spiel? Gab es einen Grund, unbedingt innerhalb von fünf Monaten so ein Referendum anzuberaumen? Ist irgendetwas im Mai passiert, wurden die Menschen in Irakisch-Kurdistan akut bedroht oder die Existenz der kurdischen Gebiete? Ich war hier, als die Ankündigung kam und kann mich an nichts erinnern. Ein Referendum gab es schon 2005, warum also erneut zum Urnengang aufrufen? Und warum in solcher Hast? So eine Frage und Entscheidung sind von großer Bedeutung und eigentlich sollte man sich doch Zeit lassen, vor allem wenn kein Zeitdruck herrscht, oder?

Hat da die „Not for Now“ Bewegung, die Sie so abfällig als „gesteuerte Minderheit“ bezeichnen nicht schwerwiegende Argumente? Wäre es nicht wesentlich sinnvoller gewesen, erst Neuwahlen abzuhalten und dann mit starker parlamentarischer Grundlage gemeinsam so etwas vorzubereiten. Anders als im Restirak gibt es momentan in Kurdistan kein funktionsfähiges Parlament und es wurde oft genug darauf hingewiesen, dass Präsident Barzani faktisch ohne Mandat regiert. Sind das ideale Grundlagen, um eine so wichtige Frage zu entscheiden? Gerade wenn keine akute äußere Bedrohung vorliegt und sich eigentlich im Alltag der Leute wenig ändern wird, ja die meisten nicht einmal den Unterschied bemerken würden, ob sie nun in einem kurdischen Autonomiegebiet oder einem eigenen Staat leben würden? Will man zu einer Nation werden in einer Region, in der alle Nachbarn diesen Schritt entschieden ablehnen, dann bräuchte man doch entweder starke internationale Unterstützung oder zumindest eine eigene Wirtschaft, die einen etwas unabhängig macht.

Nun fehlt beides: Kurdistan hat de facto keine Ökonomie, es ist völlig vom Ölexport abhängig und importiert de facto alles. Ein Blick in Regale von Geschäften hier spricht Bände. Wie viele Produkte stammen aus Kurdistan? Zwei Prozent oder doch vier?

Hand aufs Herz, sollten die Türken und Iraner die Grenzen schließen, beginnen hier innerhalb einer Woche die Vorräte knapp zu werden, nach einem Monat wären die Regale leer bzw. alles müsste, wie früher geschmuggelt werden und die Preise stiegen entsprechend. Dreht die Türkei dann noch den Hahn für die Pipeline ab, fehlten von einem Tag auf den anderen 90% der Einnahmen. Und hat die Regierung Rücklagen für den Ernstfall gebildet? Wohl kaum, sie kann ja momentan nicht einmal Gehälter bezahlen.

Dann sind da noch all die Schritte, die der Irak unternehmen kann und auch angedroht hat: Ab Freitag will er den internationalen Flugverkehr nach Kurdistan unterbinden und alle Zahlungen aus Bagdad einstellen. Das hat das Parlament entschieden, ein Parlament, in dem auch die Abgeordneten Kurdistan sitzen, während der irakische Präsident, Fuad Massum, der Patriotischen Union (PUK) angehört, also selber kurdischer Politiker ist. Der Irak handelt im Auftrag eines gewählten Parlaments, während in Arbil seit Jahren die Volksversammlung paralysiert ist. Wirkt das überzeugend?

Spricht Irakisch-Kurdistan in dieser Zeit mit einer Stimme? Ich habe nicht den Eindruck, ich mag natürlich geprägt sein von Suleymaniah, wo ich mich meist aufhalte, aber hier sieht die absolute Mehrheit der Leute dieses Referendum nicht als ihre Angelegenheit. Ganz im Gegenteil.

Dasselbe gilt für Halabja, Rania und die ganze Region, in der immerhin 2/5 aller Bewohner Irakisch-Kurdistans leben. Ich mag jetzt gar nicht diskutieren, wie viele hier für Ja gestimmt haben, Fakt ist, dieses Referendum wird hier als eine Angelegenheit von Herrn Barzani und seiner Partei wahrgenommen. Und jeder, der Kurdistan etwas kennt, weiß wie tief die Spaltung zwischen Nord und Süd ist.

Es gibt ja nicht einmal einen gemeinsamen Sicherheitsdienst, keine gemeinsame Armee, die Finanzen sind kaum vereinheitlicht und vieles ist immer noch so wie es bis 2003 war, als es zwei kurdische Regierungen gab. Nein, Einheit sieht anders aus. Die bräuchte man aber in so kritischen Zeiten, oder?

Ich wette, sollte es zu Versorgungsengpässen kommen, es würde nicht lange dauern und in Suleymaniah demonstrierten die Menschen … und der Protest richtete sich dann gegen KDP und Barzani, nicht zuerst gegen Türkei und Iran. Ich zweifle, dass sehr viele hier bereit sind, für diese Unabhängigkeit große Opfer zu bringen. Und ich kann sie bestens verstehen, denn, wie gesagt, es gab ja keinen akuten Anlass, dieses Referendum jetzt auf den Weg zu bringen.

Um es noch einmal zusammenzufassen: Es gibt keine internationale Unterstützung, keine tragfähige Ökonomie, keine wirklichen Institutionen und die Region ist auch noch tief entlang von Parteilinien gespalten. Was ich weiß, wissen die Regierungen in Ankara, Teheran und Bagdad auch. Sie wissen, dass die Kurdische Regierung keine guten Karten hat.

Dann kommt da noch die geographische Lage dazu. Wenn Irak, Iran und die Türkei es wollen, dann können sie ohne einen Schuss abzufeuern Irakisch-Kurdistan langsam ausdimmen. Und von Syrien ist nicht viel zu erwarten, die Grenze kontrolliert die PYD-PKK mit der die KDP auf Messer verfeindet ist.

Deshalb hinken auch alle Vergleiche mit Israel, das über eine Küste und damit freien Zugang zu Weltmärkten verfügte. In Israel ging es damals auch um Alles oder Nichts für die jüdische Bevölkerung, den Jischuw, um Siegen oder Sterben. Ging es im Mai in Kurdistan um irgendetwas Ähnliches? Nein, ging es nicht. Kein einziger Kurde im ganzen Irak musste um sein Leben fürchten oder wurde staatlich unterdrückt, nur weil er Kurde ist. So ist es seit 2003. Vieles mag im Irak gescheitert sein, aber von staatlicher Verfolgung oder ähnlichem kann seit dem Sturz Saddam Husseins kaum die Rede sein.

Und heute, zwei Tage nach dem Referendum? Steht plötzlich die ganze Existenz Kurdistans auf dem Spiel. De facto fordert das irakische Parlament eine Entmachtung der Autonomieverwaltung. Und in Kirkuk? Das stand seit 2014 de facto unter kurdischer Verwaltung und die wurde weitgehend von Bagdad akzeptiert. Nun gibt es die Order dort irakische Truppen einmarschieren zu lassen. Krieg, Elend, Flucht drohen. Zum ersten Mal seit 1997 ist vorstellbar, dass die KRG zusammenbricht. Wir alle hoffen, dass das nicht geschieht, aber man beginnt sich plötzlich diese Szenarien auszumalen. Wofür? Warum? Wozu soll das gut sein und warum jetzt?

Der Zeitpunkt ist denkbar schlecht gewählt, denn seit einiger Zeit nähern sich der Iran und die Türkei und Bagdad wieder an. Teheran und Ankara teilen gerade Syrien untereinander auf. Kurdische Politik musste immer versuchen, die Differenzen zwischen beiden Ländern für sich zu nutzen, sie gegeneinander auszuspielen. Auch das funktioniert momentan nicht, denn so einig waren sie sich schon seit langem nicht. Und gegen den Willen der Türkei und des Iran, so traurig und tragisch das auch ist, kann ein Irakisch-Kurdistan nicht existieren. Kurdistan ist stark, wenn seine Gegner uneinig sind. Umgekehrt gilt das gleiche, denn wir alle wissen, welchen Einfluss trotz allem beide Länder auf je unterschiedliche Parteien hier ausüben.

Welche Trümpfe also hat Barzani eigentlich in der Hand? Ich sehe keine, die wirklich stechen würden. Da helfen auch 90% Ja-Stimmen nicht weiter und die Unterstützung Israels und der katalonischen Regierung .

Politik im Nahen Osten ist blutig und dreckig und schert sich nicht um Menschenleben oder Konzepte wie das Selbstbestimmungsrecht. Und auch in Washington hat man klar gemacht, dass man nicht bereit ist für eine kurdische Unabhängigkeit irgendetwas aufs Spiel zu setzen. Sehr klar.

Denn niemand will, dass in dieser Region angefangen wird, Grenzen neu zu ziehen. Man mag Bücher über die Ungerechtigkeit von Sykes-Pikot schreiben und lesen, de facto sind die Grenzen hier seit der Unabhängigkeitserklärung Israels so starr wie nirgends sonst auf der Welt. Und beginnt man an einer Stelle neue Grenzen zu ziehen – niemand weiß bislang überhaupt, wo den die Grenze dieses kurdischen Staates verlaufen soll – dann öffnet man die Box der Pandora.  Denn niemand hier ist, auch wenn die Grenzen so starr sind, mit diesen Grenzen zufrieden. Und da all diese Länder nur nominell Nationalstaaten sind, würde es zu unzähligen Forderungen kommen, die alle drohten in neue Konflikte umzuschlagen. Dann ginge es um die Grenzen der Türkei, des Iran, Saudi Arabiens, Syriens …. die Liste ließe sich fortführen. Viele Grenzen mögen in der Tat Ursache für Leid, Vertreibung und Elend gewesen sein, nur in internationaler Politik zählt vor allem in diesen trüben Zeiten nur Stabilität.

Kurzum: Momentan will niemand an diese Grenzen rühren.

Das hat man der kurdischen Regierung auch sehr klar gemacht: „Ihr könnt de facto Staat spielen, diplomatische Vertretungen eröffnen, Flughäfen, eigentlich alles, was einen Staat ausmacht, nur bei Unabhängigkeit ist Schluss. Das wird nicht geduldet!“

Und genau diese rote Linie wurde nun überschritten.

War es das wert? Vielleicht. Man wird sehen. Was wenn nicht? Zählt in Politik nicht die zweite Frage?

Ich habe mir ausgemalt, was im schlimmsten Falle geschehen könnt und bin zu dem Schluss gekommen, dass es das eher nicht wert ist. Das Risiko für die Menschen hier ist zu groß, die ganzen Errungenschaften der letzten Jahre stehen plötzlich auf dem Spiel.

Außerdem leben wir im Jahr 2017 und haben gesehen, wie Aleppo, Mosul und Cizre, um nur drei von unzähligen Städten zu nennen, in Trümmer gelegt wurden, ohne dass irgendwer etwas dagegen getan hätte, die Millionen Menschen fliehen mussten und Hunderttausende  verkrüppelt wurden oder starben. Es gibt keine Sicherheit. Soll die Zukunft Kirkuks, Dohuks, Arbils und Suleymaniahs so aufs Spiel gesetzt werden? Käme irgendwer zum Schutz? Wen ja, wer? Ich jedenfalls habe da alles Vertrauen verloren.

Hinzu kommt, wir alle erinnern uns noch an die innerkurdischen Krieg in den 90er Jahren, oder? Noch immer regieren dieselben Leute, die auch damals regierten. Will man denen wirklich vertrauen, nun den Weitblick zu haben, Kurdistan unter so widrigen Bedingungen in die Unabhängigkeit zu führen?

Kurzum, das ganze Unterfangen erscheint mir als ein ziemliches Vabanque Spiel für einen Zweck, der die Mittel nicht heiligt. Und dies sind nur einige der Gründe - ich werde versuchen, weitere in den nächsten Tagen zu formulieren -, warum ich diesem Referendum so kritisch gegenüberstehe und trotz allem von ganzem Herzen hoffe, dass ich völlig falsch liege und die, die jetzt auf der Straße feiern, Recht behalten werden.

Mit freundlichen Grüßen aus Suleymaniah

Thomas v. der Osten-Sacken