Freitag, 14.12.2018 / 20:40 Uhr

"Dem Westen die Schuld geben reicht nicht aus"

Von
Aus dem Netz

Der algerische Schriftstseller Kamel Daoud setzt sich in einem längeren Essay kritisch mit dem im Nahen Osten und Nordafrika so weit verbreiteten Opfernarrativ auseinander`:

„Ich bin ein Mann der es müde ist zu hören, dass wir Opfer sind, dass der Westen unser Scharfrichter und dass er allein für unsere gegenwärtige Notlage verantwortlich ist. Ich habe so gut ich es vermag dazu aufgerufen, das Gewicht der Welt zu schultern und unser Gewissen und unseren Geist wieder zu öffnen, die durch einen veralteten Aktivismus sklerotisch geworden sind. (…)

Weil diese Werte jedoch trotzdem auch westlich sind, wird derjenige der sie zu seiner Lebenssache macht mit Ausgrenzung konfrontiert, als ‚verwestlicht’ und daher als Verräter bezeichnet.

In meinem Land las und las ich erneut jeden Tag Artikel in den konservativen oder islamistischen Zeitungen, in denen Migranten südlich der Sahara Afrikaner‘ genannt werden, als ob wir im Maghreb Japaner wären. Sie behaupten, dass diese Migranten an Verbrechen, Gewalt, Krankheiten und Drohungen schuld seien – mit anderen Worten handelt es sich um die gleichen Verbrechen, welche den illegalen Migranten aus dem Maghreb in Europa vorgeworfen werden. (…) In derselben Zeitung können Sie einen Artikel lesen, in dem die aggressive Ausweisung algerischer Einwanderer in Frankreich verurteilt wird, zusammen mit einem kurzen Clip, in dem darauf hingewiesen wird, dass 500 Migranten aus der Südsahara unter dem angeblichen Vorwand, dass einer von ihnen ein Verbrechen begangen hätte, aus einer algerischen Stadt deportiert wurden. Das intellektuelle und moralische Gewissen des Südens ist nicht mehr wert als das westliche Gewissen welches vor Gericht steht: angeklagt, alle Tragödien der Welt verschuldet zu haben. (…)

In einem Artikel über die ‚Kölner Ereignisse’ von vor zwei Jahren schlussfolgerte ich, dass eine Verpflichtung bestehe, [den Flüchtlingen] zu helfen und wies zugleich auf die Pflicht des Flüchtlings hin, diese Freiheit und Sicherheit zu erhalten und zu verteidigen, wegen der er in den Norden kam, um ein Teil davon zu werden. Ein Mann kann nicht tausende von Meilen laufen um frei zu sein und diese Freiheit dann seiner eigenen Frau zu verweigern, welche den gesamten Weg hinter ihm lief. (…)

[W]ir werden von Marokko bis zum Oman aller Übel beschuldigt, weil wir menschliche Werte wie die Freiheit, den Orgasmus, den Körper, die Demokratie oder die Gleichheit verteidigen – welche kein Banner der Verwestlichung ist, sondern Werte der Erlösung für alle darstellen. Weil diese Werte jedoch trotzdem auch westlich sind, wird derjenige der sie zu seiner Lebenssache macht mit Ausgrenzung konfrontiert, als ‚verwestlicht’ und daher als Verräter bezeichnet. Konservative, wie die religiösen Mächte, haben sich selbst zu Bewahrern ernannt, die den Wert der Authentizität in der sogenannten ‚arabischen’ Welt, der Tradition und des Patriotismus überwachen und uns an die Grenzen und zum Tode hindrängen.