Sonntag, 30.12.2018 / 10:10 Uhr

Krieg und Verrat

Von
Aus dem Netz

Der syrische Schrifsteller Yassin Al Haj Saleh in einem Essay über den Krieg in Syrien:

Ich nenne das, was in meinem Heimatland geschieht, eine "Kriegswelt": Nirgendwo sonst treffen heute so viele Mächte aufeinander wie in Syrien. Vier UN-Sicherheitsratsmitglieder haben sich militärisch in unterschiedlicher Intensität am Krieg beteiligt: die USA, Russland, Frankreich und Großbritannien. Zwei Regionalmächte – der Iran und die Türkei – haben Truppen in Syrien, und Israel fliegt regelmäßig Luftangriffe. Hinzu kommen zahlreiche dschihadistische Milizen.

Syrien wird als Sonderfall betrachtet, nicht als Symptom für den internationalen Verfall philosophisch-moralischer Standards.

93 Monate sind seit dem Beginn des zunächst friedlichen Aufstands gegen die Diktatur vergangen, auf den ich immer gehofft, den ich aber kaum für möglich gehalten hatte. Ich habe den Aufstand zu Beginn als Befreiung empfunden. Doch heute bin ich voller Trauer und Wut. Dass das Regime seine Gegner gnadenlos verfolgen würde, war abzusehen. Dass der Westen die freiheitlichen Kräfte so im Stich lassen und seine eigene Gestaltungsmacht so einfach aufgeben würde, war es nicht.

Nun ist die weit verbreitete Behauptung, der Westen habe sich in Syrien "herausgehalten", falsch. Westliche Armeen sind im Land. Nur haben sie eben nicht die Zivilbevölkerung vor dem völkermörderischen Regime geschützt, sondern sich einmal mehr dem "Kampf gegen den Terror" verschrieben. Das ist nicht nur unethisch, sondern auch sicherheitspolitisch kurzsichtig.

Die USA wiederholen einen alten Fehler westlicher Nahostpolitik: Sie verraten ihre Verbündeten, in diesem Fall die kurdischen Kämpfer.

Nichts verdeutlicht das besser als Donald Trumps Entscheidung, die US-Truppen aus Syrien im Handstreich abzuziehen. Denn nun wird sichtbar werden, was von diesem Einsatz bleibt. Es war aus meiner Sicht richtig, dass die westliche Allianz unter Führung der USA einschritt, um den sogenannten Islamischen Staat zu bekämpfen. Nur beruhte ihr Vorgehen von vornherein auf dem falschen Glauben, der IS wäre mit militärischen Mitteln allein zu besiegen. Es wurde den Terroristen ihr Territorium genommen, doch der Nährboden, auf dem ihr radikaler Nihilismus erst gedeihen konnte, die Brutalität des syrischen Staates, blieb unangetastet. Wenn die Soldaten abgezogen werden, kann der Extremismus schnell wieder erstarken. Die USA wiederholen einen alten Fehler westlicher Nahostpolitik: Sie verraten ihre Verbündeten, in diesem Fall die kurdischen Kämpfer. Damit spielen sie Assad in die Hände. Eine neue Katastrophe ist vorprogrammiert. (...)

Heute leben 80 Prozent der Menschen in Syrien in Armut. Das Land wieder aufzubauen, ohne diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die es zerstört haben, verletzt nicht nur die Würde der Opfer; es belohnt jene, die diese beispiellosen Verbrechen begangen haben.

Die Notwendigkeit des Wiederaufbaus stellt alle Gegner des Regimes vor ein Dilemma, auch mich. Einerseits möchte ich, dass die Not der Syrer gelindert wird. Es müssen Schulen und Wohnungen her, und sie müssen aus dem Ausland finanziert werden. Andererseits weiß ich, dass in Syrien nichts gebaut werden kann, ohne dass korrupte Regimekräfte Geld abzweigen. Jede Hilfe nützt auch dem Regime. Es gibt keinen Ausweg aus dieser Zwickmühle. Aber die negativen Folgen ließen sich minimieren, wenn der Westen sich verpflichten würde, Gelder für den Wiederaufbau nicht durch die staatlichen syrischen Kanäle fließen zu lassen.

Seit 2011 sind im Nahen Osten die letzten "roten Linien" überschritten worden.

Manchen Diplomaten und Experten, die sich all diese Jahre mit Syrien beschäftigt haben, ist das bewusst. Aber selbst jene, die mit der Idee der Revolution sympathisiert haben und die das Assad-Regime verurteilen, fügen sich nun der Logik der Siegermächte. (...)

Während die mächtigsten Staaten der Welt sich in den Krieg eingemischt haben und die Syrer in alle Welt verstreut worden sind, während aufgedeckt worden ist, dass das Regime Krematorien neben seinen Gefängnissen hat errichten lassen, während also die politischen und moralischen Implikationen für die internationale Gemeinschaft immer größer geworden sind, ist der weltweite Diskurs über Syrien zunehmend verengt worden. Syrien wird als Sonderfall betrachtet, nicht als Symptom für den internationalen Verfall philosophisch-moralischer Standards.

Seit 2011 sind im Nahen Osten die letzten "roten Linien" überschritten worden, auf die sich die Weltgemeinschaft verständigt hatte, Normen wie etwa das Verbot chemischer Kampfstoffe. Im Westen wird verdrängt, dass das Geschehen in Syrien nicht allein auf innersyrische Konflikte zurückgeht, sondern Ausfluss globaler Politik ist – und dass es auch globale Auswirkungen hat. (...)

Solange in den USA ein korrupter Präsident regiert und in Russland ein Kriegsverbrecher, solange die Demokratie in der Vertrauenskrise steckt, so lange kann die Recht- und Straflosigkeit des Falls Syrien sich jederzeit auch in andere Teile der Welt ausbreiten.