Sonntag, 13.10.2019 / 22:23 Uhr

Die neuen Flüchtlinge: Nowhere to go

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Im Norden Syrien sind laut UN-Angaben inzwischen über hunderttausend Menschen auf der Flucht vor der türkischen Invasion. Nur: Es gibt keinen Ort, an den sie fliehen können. Selbst Zustände wie auf Lesbos würden sie nur allzu gerne in Kauf nehmen.

 

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(Bild: Im Moria Camp auf Lesbos © Andrea Ehrig

 

Erneut trifft eine Welle aus Zerstörung und Destruktion Städte, die man kennt, in denen man Zeit verbracht hat und die einem ans Herz gewachsen sind. Diesmal ist es Qamischli im kurdischen Nordostsyrien, in dem ich oft war, vor vielen Jahren Projekte unterstützt habe und deshalb auch unzählige Menschen kennenlernte.

An der türkischen Grenze gelegen, ist Qamischli für mich der Inbegriff eines Syriens, das sein könnte, aber wohl nie mehr sein wird, bevölkert von einer Mischung aus Kurden, Arabern, Assyrern und Aramäern, die dort weitgehend unbehelligt Seite an Seite lebten und leben. Schon 2004 lehnten sie sich in öffentlichen Protesten gegen Assad auf, viele schlossen sich später der syrischen Revolution an, bis die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) die Kontrolle übernahm. Bislang blieb die Stadt von Krieg und Zerstörung weitgehend verschont, nahm in den letzten Jahren sogar viele Flüchtlinge aus anderen Teilen des Landes auf.

„Es gibt keinen Ort, an den sie fliehen können.“

Damit es vorbei. Seit ein paar Tagen wird auch in Qamischli gekämpft, denn es liegt in jener 30-Kilometer-Zone, die die Türkei nun für sich beansprucht. Eine ehemalige Kollegin von mir stammt aus der Stadt, lebt heute in Deutschland, aber ihre Familie ist vor Ort geblieben. Wir sind in Kontakt, denn ich weiß, welche Sorgen sich Menschen um ihre Angehörigen in solchen Situationen machen. Ihnen ginge es noch gut, schreibt sie, aber die Situation sei „terrible“. Ob sie an Flucht denken, frage ich. „Wohin?“, schreibt sie zurück. „Es gibt keinen Ort, an den sie fliehen können.“

Recht hat sie: Wohin sollen die Menschen aus Nordsyrien entkommen? In die Türkei? Die ist mit einem EU-finanzierten Grenzzaun hermetisch abgeriegelt. In den Irak? Der versucht seine Grenzen zu kontrollieren, und alleine im kurdischen Norden leben bereits heute schon hunderttausende Jesiden, Araber und auch Syrer in notdürftig hergerichteten Lagern. Zu Assad? Ausgerechnet zu ihm, der verantwortlich ist für Millionen von syrischen Flüchtlingen in der Region? Irgendwo in ein Camp für intern Vertriebene südlich der Zone, die die Türkei für sich beansprucht? Es stimmt, Meldungen zu Folge haben sich fast 100.00 Menschen aus dem bislang recht ruhigen Rojava auf die Flucht gemacht. Aber auch für sie gilt: Wohin? Es gibt längst für Syrerinnen und Syrer keinen Platz mehr, an den sie fliehen können. Wie viele jetzt wohl bedauern, an eine Zukunft in ihrer Heimat geglaubt zu haben, damals, vor 2015, als man noch entkommen konnte?

Die „Hölle auf Erden“

Ich bin dieser Tage oft im notorischen Moria-Camp auf Lesbos, einem Ort, den ein UN-Vertreter einmal die „Hölle auf Erden“ genannt hat. Der Begriff Flüchtlingslager ist eigentlich ein Euphemismus für einen wilden Zeltplatz unter Oliven neben einer Einrichtung, die einmal für temporäre Unterbringung von maximal 3.000 Menschen errichtet wurde. Heute leben hier 13.000 Menschen zwischen Müllbergen, die ab und zu abgeholt werden, teilen sich ein paar Plastiktoilettenhäuschen und Wasserhähne und warten auf den Winter. Eine Hilfsorganisation hat sogar nachgezählt, allerdings bevor all die Neuen kamen: 84 Menschen teilten sich damals eine Dusche, 72 eine Toilette. Das waren aus heutiger Sicht die goldenen Zeiten, als nur 8.000 Flüchtlinge dort untergebracht waren. Manche harren hier schon seit über einem Jahr aus, warten, dass ihr Asylantrag endlich bearbeitet wird.

 

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Seit einigen Wochen kommen wieder Nacht für Nacht hunderte neue Flüchtlinge aus der Türkei an, die meisten Afghanen und Syrer. Sie fliehen, weil sie Angst haben, von den türkischen Behörden in zurück ihre „Heimat“ – oder was mal ihre Heimat war, bevor sie in Schutt und Asche gelegt wurde – abgeschoben zu werden. Dafür nehmen sie die unvorstellbaren Zustände in Kauf, in denen sie hier zu leben haben.

… ist ein unerreichbarer Traum

Und unsere Zeiten sind so, dass gerade Zehntausende in Syrien vermutlich sehr viel dafür geben würden, ebenfalls ein Zelt im völlig überfüllten Olivenhain von Moria zu errichten. Wie eine Afghanin mir kürzlich sagte: Ja, es sei schrecklich, aber immerhin fielen hier keine Bomben und man müsste keine Angst vor den Terroristen haben. Im Herbst 2019 ist das für sehr viele Menschen schon sehr viel – und wird für die meisten ein unerreichbarer Traum bleiben, die nicht einmal einen Ort erreichen können, an dem sie Zelte aufstellen könnten.

In der Zwischenzeit erreichen mich Nachrichten von einer jesidischen Bekannten, die ebenfalls in Deutschland lebt und deren Familie sich gerade in Nusaybin aufhält, der türkischen Zwillingsstadt von Qamischli. Auch dort schlagen Granaten ein und viele Menschen sind auf der Flucht. Meine Bekannte fürchtet um das Wohlergehen ihrer Familie, die sich weigert, den Ort zu verlassen, weil sie in ihrem Haus Dutzende von Flüchtlingen aufgenommen haben. Und dann warte ich auf Meldungen von meinen Kolleginnen im Nordirak, die an die Grenze zu Syrien gefahren sind, um herauszufinden, wie man den neuen Flüchtlingen helfen kann. Sie schreiben gerade an einem Spendenaufruf und schlagen als Überschrift den alten Satz vor „Die Kurden haben keine Freunde außer den Bergen“. Ich widerspreche: Doch haben sie, meine ich, selbst wenn ich zunehmend zweifele. Schreibt lieber, dass Ihr hofft, die wirklichen Freunde der Kurden werden Euch auch in diesen schwierigen Zeiten unterstützen.

Derweil ist es dunkel geworden in Lesbos, eine helle klare Vollmondnacht, ideal zur Überfahrt aus der Türkei, die so nahe ist, dass man die Lichter der auf der anderen Seite fahrenden Autos sieht. Bald werden vermutlich wieder ein paar Boote ablegen und versuchen an der türkischen Küstenwache vorbei ans griechische Ufer zu kommen. Auch wenn es nur gut zwöf Kilometer sind, kein Vergleich etwa zur mörderischen Überfahrt von Libyen nach Italien, kentern immer wieder die völlig überladenen Schlauchboote, sind jeden Monat neue Tote zu beklagen, die es nicht geschafft haben.


Trotzdem, so muss man sich vor Augen halten, träumen gerade unzählige Menschen davon, heute Nacht oder in den kommenden Tagen ein solches Boot besteigen zu können.

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch