Freitag, 29.11.2019 / 21:36 Uhr

Spaltet eine Palastintrige in Ankara die türkische Opposition?

Von
Murat Yörük

Die kemalistische Oppositionspartei CHP wird von Flügelkämpfen erschütttert. Das möchte Präsident Erdoğan für seine Zwecke ausnutzen.

 

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(Präsidentenpalast in Ankara; Quelle: Wikipedia)

 

Innenpolitisch steht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit geraumer Zeit stark unter Druck. Sowohl die Wirtschafts- als auch die Flüchtlingskrise sind immer noch nicht gelöst. Spätestens seit der verlorenen Oberbürgermeisterwahl in İstanbul zeigt sich zudem, dass die sonst zerstrittene türkische Opposition durchaus in der Lage ist, zusammenzuarbeiten und Wahlen zu gewinnen.

Diese Kooperation steht allerdings inhaltlich auf einem sehr brüchigen Boden, und findet nur schwer zu einem gemeinsamen Nenner. Tragende Säule der Opposition ist daher lediglich die Gegnerschaft zu Erdoğan. Darüber hinaus eint die türkische Opposition aus Kemalisten, Kurden, Nationalisten und Islamisten kaum etwas. Die ideologischen wie politischen Differenzen sind immens. Entsprechend hat Erdoğan ein leichtes Spiel, um die Einigkeit der Opposition zu testen und herauszufordern.

Forderung nach Neuwahlen

So erfolgte der jüngste Einmarsch in Nordsyrien auch im Interesse daran, die Opposition zu spalten. Außer der HDP hat sich keine der Oppositionsparteien gegen den Einmarsch gestellt. Bis kürzlich überlegte sie daher – auch aus Protest gegen die zahlreichen Bürgermeisterabsetzungen im Südosten der Türkei – den Rückzug aus dem Parlament, entschied sich jedoch vorerst allein für die Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen.

Jüngste Umfragen deuten zwar auf einen kurzfristigen Stimmenzuwachs für Erdoğan. Dieser reicht allerdings nicht, um die gebotene absolute Mehrheit von mindestens 50,1% zu erreichen. So viel Stimmenanteil braucht nämlich ein Präsidentschaftskandidat, um im neuen Präsidialsystem bereits im ersten Wahldurchgang gewählt zu werden. Erdoğan ist darum auf der Hut und sich sehr im Klaren darüber, dass für seine Wiederwahl ausreicht, die Opposition erstens zu schwächen und zweitens daran zu hindern, einen gemeinsamen Kandidaten zur Wahl zu stellen.

Bei einer geschwächten Opposition würde er zwar nicht im ersten, aber im zweiten Wahlgang, bei dem eine einfache Mehrheit ausreicht, einen Sieg erringen können. Eine Opposition, die nicht kooperiert, sondern gegeneinander agiert, wäre ein Segen für Erdoğan, auch wenn er nur mit 30 oder 40 Prozent siegt.

Doch der Einmarsch in Nordsyrien war – anders als erhofft – von kurzer Dauer, und längst stehen wieder andere Themen auf der Tagesordnung. Die mehrmonatige Propagandakampagne und die militärische Vorbereitung legen nahe, dass eine längere Intervention geplant war. Es kam allerdings ganz anders.

So kann Erdoğan zwar die nationalistische Stimmung seit dem Einmarsch und die Kriegszustimmung von über 75% für sich nutzen. Tragend und von langer Dauer wird diese Stimmung – bedingt durch den eher bescheidenen Erfolg in Nordostsyrien – allerdings nicht sein, und so geht Erdoğan zum direkten Angriff gegen die Opposition über, wobei er neue Register zieht.

Wer war im Palast?

Möglicherweise gehört ein Vorfall, der erst vergangene Woche öffentlich wurde, zu diesem neuen Schachzug. Alles deutet jedenfalls darauf hin, dass eine Palastintrige mehr als wahrscheinlich ist.

Der jüngste Skandal beginnt damit, dass der bekannte Journalist Rahmi Turan, der als Kolumnist für die auflagenstärkste türkische Tageszeitung Sözcü schreibt, am 20.11.2019 darüber berichtet, dass am 9. November ein hochrangiger Politiker der Oppositionspartei CHP unter strenger Geheimhaltung im Präsidentenpalast gewesen soll. Dort soll sich zwischen Erdoğan und diesem zunächst namentlich nicht näher genannten Politiker folgendes Gespräch zugetragen haben: Erdoğan habe im Falle einer Zusammenarbeit angeboten, „zum Wohle des Landes“ alles dafür zu tun, dass sein Gesprächspartner zum nächsten Vorsitzenden der CHP werden würde. Seiner Quelle traue Turan zu einhundert Prozent, Namen wolle er aber vorerst keine nennen.

Allein diese kurze Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Zunächst dementierte der Kommunikationsdirektor des türkischen Präsidenten Fahrettin Altun am 21.11, dass dieses Treffen stattgefunden habe. Es sei „völlig unrealistisch“, sagte er.

Wenige Stunden später erklärte der Parteivorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, dass ein solches Treffen ihn „nicht überrascht“ habe, und die Behauptung „wahr sein könnte“. Erdoğan versuche seit einiger Zeit, seine Partei unter Kontrolle zu bringen. So stehe auf dem kommenden Parteikongress im Frühjahr 2020 die Wahl des Parteivorsitzenden auf dem Programm, und Erdoğan käme es sehr gelegen, wenn die CHP intern aufgemischt und gespalten werde.

Der nationalistisch-kemalistische Flügel setzt auf die nationale Mobilmachung und steht einer kurdischen Öffnung eher ablehnend gegenüber.

Am 22.11 legte Turan nach. Ihm zufolge soll Muharrem Ince, der Präsidentschaftskandidat der CHP im Juni 2018 am 9. November im Präsidentenpalast zu Gast gewesen sein. Diese Information habe er von dem Journalisten Talat Attila, der wiederum selbst am 23.11 mitteilte, dass er die Information über dieses Treffen aus Führungskreisen der CHP erhalten habe. Muharrem Ince indes wies die Behauptungen zurück: Die Intrige gelte ihm; die CHP wolle parteiinterne Konkurrenten aus dem Weg räumen. Sollten sich die Berichte über das Treffen allerdings bewahrheiten und es Beweise gegen ihn gäbe, würde er sich auf dem İstanbuler Taksim-Platz selbst in Brand stecken.

Flügelkämpfe in der CHP

Seit Tagen wird nun darüber spekuliert, wer der unbekannte Gast im Palast gewesen sein soll. Es wird auch darüber gerätselt, wem die Intrige überhaupt gilt.

Diese Spekulationen treffen die Republikanische Volkspartei CHP zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Die Partei ist gegenwärtig in mindestens zwei Flügel geteilt und wird derzeit unter erschwerten Bedingungen vom Parteivorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu zusammengehalten. Der nationalistisch-kemalistische Flügel setzt auf die nationale Mobilmachung und steht einer kurdischen Öffnung eher ablehnend gegenüber. Entsprechend genießt unter diesen Kemalisten die HDP eine Geringschätzung und sie wird, wenn überhaupt, nur als ein Paria geduldet.

Aussichtsreichster Kandidat dieses Flügels ist der Physik-Lehrer Muharrem Ince, der zwar aktuell kein Parteiamt inne hat, jedoch seit seinem durchaus ansehnlichen Erfolg bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen 2018 mit über 30% die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Er hat dennoch keine Aussicht, zum neuen Parteivorsitzenden der CHP zu werden. Denn innerhalb der Partei dominieren gegenwärtig jene, die sich eine Zusammenarbeit mit der HDP, und darüber hinaus mit anderen kleineren Parteien, auch weiterhin vorstellen können. Dieser linke bis linkskemalistische Flügel steht geeint hinter dem aktuellen Vorsitzenden Kılıçdaroğlu.

Ince selbst hingegen tritt seit Monaten in Eigeninitiative und ohne eine Legitimation seiner Partei erhalten zu haben öffentlich auf – und erklärt sich des Öfteren eigenmächtig zum nächsten Präsidentschaftskandidaten der CHP. Zur Verärgerung seiner Partei tut er dies seit einiger Zeit auch noch in regierungsnahen Fernsehkanälen wie CNN Türk auf, die ihn gerne hofieren.

Ein lachender Dritter: Die AKP

Es würde darum kaum überraschen, dass der Palast diese jüngsten Entwicklungen innerhalb der CHP genau beobachtet und nun die Gelegenheit nutzt, um zum Frontalangriff überzugehen. Nahezu geschlossen springt die Regime-Presse auf die Seite von Ince und vermutet eine Verschwörung gegen ihn, koordiniert von einer Bande innerhalb der CHP, die Ince durch Klatsch und Verleumdungen loswerden wolle.

Dabei könnte sich die mangelnde Fähigkeit der CHP, den außer Kontrolle geratenen Ince zur Parteidisziplin aufzurufen, zu ihrem Nachteil entwickeln. Ob Kılıçdaroğlu – der sich bislang bedeckt hält, um noch größeren Parteischaden abzuwenden – sich, wie Ince wünscht, mit ihm vor der Presse zeigt, um Geschlossenheit zu demonstrieren, wird wohl über die nähere Zukunft der Oppositionspartei CHP entscheiden. Eine Spaltung kann sie sich nämlich nicht leisten.

Solch eine Spaltung wäre jedoch zum größten Nutzen der AKP, deren Sprecher Ömer Çelik die Situation so einschätzt:

„Die CHP ist eine selbstzerstörerische Partei. Wir haben mit diesem parteiinternen Komplott nicht das Geringste zu tun. Wir können uns auch keinen besseren politischen Konkurrenten wünschen als diese CHP-Führung. Sie steckt mit dem Kopf vollständig im Sumpf. (…) Sie schadet mit ihren Lügen der politischen Kultur dieses Landes. (…) Heute offenbart sich ihr autoritärer Geist.“

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch