Freitag, 14.02.2020 / 10:35 Uhr

Bagdads Tahrir Platz

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Die Situation im Irak ähnelt in vielem dem Arabischen Frühling. Im vergangenen Herbst entstand im Irak eine bis dahin ungekannte Protestbewegung. Sie richtet sich nicht nur gegen die unfähige eigene Regierung, sondern auch gegen die iranische Einflussnahme.

 

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(Bagdad; Bildquelle: My Stealthy Freedom)

 

Der folgende Beitrag von mir erschien in der letzten Ausgabe des iz3w:

Das Durchschnittsalter im Irak beträgt 21 Jahre, 57 Prozent der Bewohner*innen sind jünger als 25. Damit hat das Land eine der jüngsten Bevölkerungen im Nahen Osten. Wenn hunderttausende Irakis auf die Straße gehen, handelt es sich also automatisch um eine Jugendrevolte. Und genau das ist die Protestbewegung, die dort seit Oktober 2019 gegen Korruption und allgemeine Perspektivlosigkeit aufbegehrt. Es geht bei diesen Massendemonstrationen um Vieles, vor allem aber um die Zukunft einer Generation, die größtenteils keine Erinnerungen mehr hat an die Zeiten unter Saddam Hussein und die keinen Platz für sich in den bestehenden Strukturen sieht.

Fast jede/r dritte Jugendliche im Irak ist arbeitslos, während gleichzeitig die Zahl der Armen steigt. Allein in der erdölreichen Stadt Basra im Südirak lebt fast die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Menschen im Irak sind aber nicht nur jung, sondern auch überdurchschnittlich gut gebildet. Seit Jahren wächst die Zahl der Student*innen an Universitäten und anderen Hochschulen. Nur fehlt ihnen in der Regel jedwede Chance, später auch einen entsprechenden bezahlten Job zu finden.

Altlasten des Bürgerkrieges

Aufgewachsen sind diese Protestierenden in einem destabilisierenden Bürgerkrieg, der das Land nach 2005 spaltete und auch den Aufstieg des Islamischen Staates ermöglichte. Schon ihre Eltern kannten wenig außer Krieg, Sanktionen und eine traumatisierende Dauerkrise. Auch sie mussten erleben, wie Parteien und politische Klasse sich als notorisch unfähig und unwillig erwiesen, auch nur eines der unzähligen drängenden Probleme anzugehen. So fehlt es bis heute im Süden des Landes selbst an einer stabilen Strom- und Wasserversorgung. Gelder versickern in den Kassen einer chronisch korrupten Verwaltung, in der Gruppenzugehörigkeit eine wichtigere Rolle spielt als Kompetenz: Politik organisierte sich im Irak, ähnlich wie im Libanon, streng entlang konfessioneller oder ethnischer Zugehörigkeiten. Deutlich zeigte sich dies etwa nach dem Sturz Saddam Husseins, dessen herrschende Baath-Partei sich auf die arabisch-sunnitische Minderheit stützte und neben den Kurd*innen im Norden auch die schiitische Mehrheit des Landes diskriminierte und unterdrückte.

Wie zeitgleich im Libanon und in anderen arabischen Ländern, in denen es in der vergangenen Dekade zu Massenprotesten kam, wurde die eigene Nationalfahne zum revolutionären Symbol

Nach 2003 sahen schiitische Parteien ihre Stunde gekommen: Mit Hilfe des Iran gelang es ihnen, die Sunnit*innen weitgehend zu marginalisieren und sich des Staats- und Sicherheitsapparates zu bemächtigen. Denn wer diesen kontrolliert, verfügt über auch die Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf, die bis heute knapp 95 Prozent der irakischen Wirtschaftsleistung ausmachen. Dieses Rentiersystem stützt sich auf Klientelismus und einen künstlich aufgeblähten staatlichen Sektor, in dem bis zu drei Viertel der arbeitenden Bevölkerung irgendwie ihr Auskommen findet. Fällt der Ölpreis, wie dies nach 2014 geschah, gerät das gesamte System in eine tiefe Krise.

Folgerichtig wächst seit Jahren vor allem im Süden des Landes und in der Hauptstadt Bagdad der Unmut. Bereits 2018 kam es immer wieder zu Demonstrationen und Protestkundgebungen, die damals vor allem von Muqtada al Sadr vereinnahmt und gesteuert wurden. Sadr, Sohn des hochrangingen Ayatollahs Muhammad Muhammad Sadiq as-Sadr, den Saddam Hussein 1999 ermorden ließ, durchlief seit 2003 unzählige politische Wandlungen. Erst wurde er mit seiner Mahdi-Miliz bekannt, die den US-Amerikanern und ihren „irakischen Kollaborateuren“ einen blutigen Krieg lieferte, in enger Kooperation mit dem Iran. Später erklärte er sich zum irakischen Nationalisten und suchte Distanz zu Teheran.

Bei den letzten Wahlen ging Sadrs Bewegung sogar ein Bündnis mit der traditionsreichen Irakischen Kommunistischen Partei ein und gewann mit einem Programm, dessen Forderungen die der späteren Protestbewegung in vielen Punkten vorwegnahmen. Bei der folgenden langwierigen Regierungsbildung gab das Bündnis allerdings iranischem Druck nach und stimmte einer Koalition mit proiranischen Parteien zu. Seitdem steht Sadr zwischen Regierung und Protestbewegung. Es ist unklar, für welche Seite er sich letztlich entscheidet. Unterstützte er anfangs noch wortreich die Demonstrierenden, distanzierte er sich im Januar  deutlich von ihnen.

Citizenship versus Konfessionalismus

Zwar waren schon die Proteste 2018 dem Namen nach gesamtirakisch, und bewusst hatten Teilnehmenden darauf verzichtet, Symbole und Fahnen schiitischer Parteien zu zeigen. Aber sie beschränkten sich fast ausschließlich auf den Süden des Landes und schiitische Stadtviertel in Bagdad. Erst mit der massiven Ausweitung der Bewegung im Herbst 2019 zeigte sich, dass die neue Generation die festgefahrenen konfessionellen und ethnischen Trennungen überwinden will. Wie zeitgleich im Libanon und in anderen arabischen Ländern, in denen es in der vergangenen Dekade zu Massenprotesten kam, wurde die eigene Nationalfahne zum revolutionären Symbol. Hier gehen, so die Botschaft, nicht mehr Angehörige ethnischer Gruppierungen oder Konfessionen auf die Straße, sondern irakische Bürger*innen, die ihr Recht auf Partizipation und eine gemeinsame bessere Zukunft einfordern.

Mit Ausnahme von Tunesien gibt es in keinem Land der gesamten MENA-Region eine Idee von der Gleichheit der Bewohner*innen als freie und gleiche Staatsbürger*innen vor dem Gesetz.

Schon im sogenannten Arabischen Frühling 2011 spielte ein für die ganze Region neues Verständnis von Citizenship eine zentrale Rolle, ein Momentum, das in Europa übrigens nicht als solches wahrgenommen wurde. Mit Ausnahme von Tunesien gibt es in keinem Land der gesamten MENA-Region eine Idee von der Gleichheit der Bewohner*innen als freie und gleiche Staatsbürger*innen vor dem Gesetz, sondern Geschlecht und Konfession bestimmen in zivil- und eherechtlichen Fragen. Auch in Tunesien musste nach dem Sturz Ben Alis lange und heftig diskutiert werden, bis die letzten Überbleibsel der Scharia-Gesetze aus der vergleichsweise progressiven Verfassung des Landes gestrichen wurden. Seitdem haben die Menschen volle bürgerliche Freiheiten, so können alle Tunesier*innen nun beispielsweise ohne Einschränkung durch die Religion heiraten.

Auch im Irak begehren immer  mehr Bürger*innen gegen den allumfassenden Einfluss von Religion beziehungsweise des Klerus auf Politik und Staat auf. Wie überall in der arabischen Welt schwinden Akzeptanz und Ansehen islamischer Parteien besonders unter Jugendlichen. „Die Trennung von Religion und Staat ist wichtiger als die von Frau und Mann“, forderte ein junger Demonstrant auf dem Tahrir-Platz in Bagdad und brachte damit die Botschaft der Protestbewegung gut auf den Punkt. Sie fordert, wie in der gesamten arabischen Welt, im Kern ein „grundlegend neues Verhältnis zwischen Bürger und Staat“[i].

 

Den ganzen Beitrag auf den Seiten der Blätter des iz3w lesen.