Sonntag, 11.02.2024 / 21:03 Uhr

Teuerungen und Massenarmut: Soziale Probleme im Iran nehmen zu

Von
Gastbeitrag von Farzad Amini

Straßenkinder im Iran, Bildquelle: Mehr News

In den vergangenen Jahren ist im Iran ein besorgniserregender Anstieg der Scheidungsraten und der wirtschaftlichen Spannungen innerhalb der Familien zu verzeichnen, der durch die zunehmende Armut noch verschärft wird.

 

Jüngste Daten verdeutlichen den Ernst der Lage: Zweiunddreißig von hundert Ehen werden inzwischen geschieden, was knapp einem Drittel entspricht. Diese Statistiken und andere empirische Belege unterstreichen einen beunruhigenden Trend, bei dem die Heiratsraten gesunken und zugleich die Scheidungsraten gestiegen sind, wobei der Rückgang der Eheschließungen den Anstieg der Scheidungen sogar noch übersteigt.

Zwischen 2011 und 2020 betrug der Rückgang der Eheschließungsraten sechsunddreißig Prozent, während die Zahl der Scheidungen um achtundzwanzig Prozent anstieg. Eine regionale Analyse zeigt, dass relativ wohlhabende Provinzen wie Teheran, Mashhad, Mazandaran und Gilan höhere Scheidungsraten aufweisen als ärmere Provinzen wie Sistan-Belutschistan und Kohgiluyeh-Obair Ahmad, was zeigt, dass der Grund für den infrage stehenden Trend nicht nur soziale Probleme, sondern auch eine Emanzipation der Mittelschicht von den Traditionen und den Regimevorgaben ist.

Dem Regime gar nicht unrecht?

Mehrere Faktoren tragen zu den sinkenden Heiratsraten bei, wobei die Wirtschaftskrise des Landes eine zentrale Rolle spielt. Obwohl schätzungsweise zwölf Millionen junge Iranerinnen und Iraner im heiratsfähigen Alter sind, entscheiden sich viele von ihnen dafür, gar nicht zu heiraten, oder stehen bei ihren Heiratsplänen vor großen Hindernissen. Wirtschaftliche Nöte, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und finanzielle Belastungen der Familie gehören zu den unzähligen Herausforderungen, die junge Iraner davon abhalten, eine Ehe einzugehen.

Das tägliche Leben im Iran wird von Monat zu Monat unerschwinglicher. So haben sich die Lebensmittelpreise im Verlauf der letzten sechs Monate fast verdoppelt: Ein Kilo Fleisch kostet heute zehn Euro, ein Kilo Fisch fünf Euro, ein Kilo Gemüse sieben bis acht Euro und ein Liter Milch neunzig Cent. Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von rund hundertfünfzig Euro und einer exorbitant hohen Arbeitslosigkeit, von der vor allem Junge betroffen sind, sehen sich viele Menschen dazu gezwungen, ihre persönliche Habseligkeiten am Straßenrand zu verkaufen, um überleben zu können.

Steigender Drogenkonsum, steigende Scheidungsraten ...

Die Hürden, mit denen sich junge Menschen konfrontiert sehen, die eine Ehe eingehen wollen, sind so gewaltig, dass viele lieber die Einsamkeit wählen, als das Risiko einzugehen, sich in die komplexen Probleme zu verstricken. Die weit verbreitete Abneigung der iranischen Jugend gegen die Ehe ist spürbar und die Initiativen der Regierung zur Förderung der Ehe greifen oft zu kurz. Die Zahl der Heiratsdarlehen hat zwar zugenommen, doch bürokratische Hürden und finanzielle Zwänge machen diese Programme oft unwirksam, sodass viele junge Iraner von der Aussicht auf eine Heirat desillusioniert sind. 

Wer mit persönlichen und familiären Problemen beschäftigt ist, ist weniger in der Lage, sich mit den drängenden politischen und sozialen Problemen zu beschäftigen.

Zu der sich immer mehr verstärkenden Problemlage abseits der steigenden Scheidungsraten und der weit verbreiteten Abneigung junger Iraner, eine Ehe einzugehen, zählt auch die alarmierende Zunahme von Risikoverhaltensweisen, insbesondere von Drogenmissbrauch, die das Gefüge der iranischen Familien zutiefst belastet. Kritiker sind der Meinung, dass die Regierung, anstatt wirksame Maßnahmen zur direkten Bewältigung der Miseren zu ergreifen, diese Krisen unbeabsichtigt fortsetzt und damit die ohnehin schon prekäre Situation noch verschlimmern könnte.

Es herrscht zunehmend der Eindruck, dass die Regierung aus den privaten Krisen der Bürger Kapital schlägt: Wer mit persönlichen und familiären Problemen beschäftigt ist, ist weniger in der Lage, sich mit den drängenden politischen und sozialen Problemen zu beschäftigen. Diese Strategie soll, so denken viele Iraner, nicht nur von den systemischen Problemen ablenken, sondern fördert auch ein Gefühl der Desillusionierung und der Hilflosigkeit in der Bevölkerung.

Insofern schwächt das Versäumnis, diese gesellschaftlichen Herausforderungen aktiv anzugehen, nicht nur die familiären Strukturen, sondern untergräbt auch den sozialen Zusammenhalt und die Stabilität im Allgemeinen. Dass die Scheidungsraten steigen und junge Iraner sich zunehmend gegen die Ehe entscheiden, könnte langfristig erhebliche Auswirkungen auf das soziale Gefüge und die Stabilität des Landes haben, befürchten viele Iraner.

Außer Religion nichts zu bieten

Das eklatante Fehlen solider Programme zur Unterstützung von Familien verschlimmert die ohnehin schon katastrophale Situation, was entweder auf den Mangel an strukturierten Initiativen oder auf die offensichtliche Unwirksamkeit der bestehenden Programme zurückzuführen ist. Anstatt diese drängenden Probleme direkt anzugehen, stützt sich die Regierung vor allem auf antiquierte religiöse Ratschläge und Rhetorik, die sich als völlig unzureichend erwiesen haben, um die vielfältigen familiären und sozialen Krisen zu bewältigen, die den Iran plagen.

Alarmierend ist, dass in Provinzen, die wegen ihrer religiösen Bedeutung für das Regime von zentralem Gewicht sind, insbesondere in Khorasan-Razavi und Qom, die Scheidungsrate trotz der religiösen Bedeutung über dem Landesdurchschnitt liegt. In Qom, das als die religiöseste Stadt des Irans gilt, liegt die Scheidungsrate bei unglaublichen sechsunddreißig Prozent, während sie in Razavi Khorasan, wo mit Maschhad das zweitgrößte religiöse Zentrum des Landes liegt, sogar auf vierzig Prozent angestiegen ist. 

Diese Statistiken zeigen, wie falsch es ist, sich ausschließlich auf religiöse Autoritäten und Geistliche zu verlassen, um den wachsenden Trend zur Scheidung einzudämmen. Verlässt man sich lediglich auf religiöse Persönlichkeiten und Konzepte, kann man die eigentlichen Ursachen der Krise nicht angehen, die durch die allgegenwärtige Armut und die zunehmende Desillusionierung der Jugend noch verschärft wird.

Daher müsste die Regierung einen aktiven und strategischen Ansatz verfolgen, der über die religiöse Rhetorik hinausgeht und evidenzbasierte Maßnahmen umfasst, die auf die komplexe Dynamik der heutigen iranischen Gesellschaft zugeschnitten sind – was sie aufgrund ihres religiösen Charakters aber nicht leisten kann. Dies würde nämliche die Ausarbeitung und Umsetzung umfassender Programme erfordern, die auf die der Instabilität zugrunde liegenden sozioökonomischen Faktoren abzielen und die gleichzeitig die Desillusionierung und Enttäuschung junger Iraner bekämpfen.

Indem sie die Selbstgefälligkeit des Regimes infrage stellen und für konkrete Reformen eintreten, können zivilgesellschaftliche Akteure und Befürworter Druck auf die Regierung ausüben, damit sie dem Wohlergehen der iranischen Familien und der Gesellschaft insgesamt Priorität einräumt. Letzten Endes kann aber nur ein Regimewechsel zur Lösung der vielfältigen Probleme der iranischen Gesellschaft beitragen.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch