Das Manifest der niederländischen »Freien Linken« kritisiert Identitätspolitik und Religion

Gegen den Rassismus der geringen Erwartungen

In den Niederlanden wird in einem Manifest die Linke zur Rückkehr zu ihren säkularen Wurzeln aufgefordert. Die Kritik der Verteidiger von Identitätspolitik und Religion ließ nicht lange auf sich warten.

»Gruppendenken spaltet das Land. Die nationalistische Rechte labt sich an Nationalromantik, und die regressive Linke antwortet mit einer ebenso wenig verbindenden Erzählung von Identitätspolitik. Die Gruppe verdrängt sowohl Nation als auch Individuum. Die progressive Linke, gestützt auf universelle Werte und Fortschritt, schnappt wie ein schwer Verwundeter nach Luft.« Diese Beschreibung bezieht sich nicht auf eine dystopische Zukunft; vielmehr soll das »Manifest der Freien Linken«, das Mitte Mai in der Tageszeitung de Volkskrant publiziert wurde, die niederländische Gegenwart skizzieren. Diese sei gekennzeichnet durch »wachsende Polarisierung und Segregation« sowie »ethnisch-religiöse Gegensätze«. Das Gegenmittel wird gleich mitgereicht: die Entwicklung einer Gesellschaft »mündiger, selbständiger Bürger«, in der die »Freie Linke« zu ihren »freisinnigen, säkularen Wurzeln« zurückfinden soll. Ganz im Sinne Spinozas und der Aufklärung.

Der Eindruck, man habe es hier vor allem mit einem philosophischen Metadiskurs zu tun, täuscht. Schon zwischen den Zeilen der Einleitung finden sich Verweise auf die schwelende Auseinandersetzung um Integration in den Niederlanden. Auf der einen Seite haben nationalistische Politiker wie Geert Wilders und der neurechte Aufsteiger Thierry Baudet Konjunktur, das politische Vermächtnis des 2002 ermordeten Pim Fortuyn wirkt weiter. Auf der anderen Seite stehen oft als »Migrantenparteien« wahrgenommene politische Formationen wie Denk und Nida, die sich außer ihrer Diversitätsleier unverhohlen türkischer beziehungsweise islamischer Identitätspolitik bedienen und Unterstützung von Teilen der Linken erfahren.

Das Manifest, erstellt vom Schriftsteller Asis Aynan, der Schauspielerin Femke Lakerveld, dem Regisseur Eddy Terstall und der früheren sozialdemokratischen Abgeordneten Keklik Yücel, benennt diese Positionen nicht en detail – die Referenz ist aber überdeutlich. Zumal recht bald der Satz fällt, der in kürzester Zeit zum Zankapfel wurde: »Die Freie Linke distanziert sich von der Annahme, nichtwestliche Niederländer müssten vor einer freien Debatte in Schutz genommen werden, weil sie noch nicht bereit seien für die Äußerungen der Modernität.« Wer so denke, heißt es, mache sich eines »Rassismus der geringen Erwartungen« schuldig. Die »Freie Linke« macht in Hinblick darauf eine deutliche Ansage: Die »Gleichwertigeit des Menschen unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Orientierung und Lebensanschauung ist die Basis für das kompromisslose Antidiskriminierungsprinzip«.

Die »Freie Link« strebt einen Staat mit neutraler Weltanschauung an, in dem »weder religiöse noch profane Ideen über Kritik erhaben« sind.

Die empörten Reaktionen auf das Manifest waren in der seit anderthalb Jahrzehnten aufgeheizten niederländischen Debatte vorhersehbar. Ein Kommentar auf der linksradikalen Website krapuul.nl kritisiert das Manifest als »hinterhältigen Aufruf gegen die Muslime« und »rassistisches Geschichtchen«, da es auf »Gläubige unter dunkelhäutigen Menschen« abziele. Verwiesen wird auch auf religiöse und ethnische Wurzeln europäischer, nord- und lateinamerikanischer Linker sowie antikolonialer Befreiungsbewegungen.

Die »Freie Linke« strebt einen weltanschaulich neutralen Staat an, in dem »weder religiöse noch profane Ideen über Kritik erhaben« sind. »Was für den einen eine Beleidigung ist, kann für den anderen eine neue Beobachtung oder Analyse sein«, heißt es. Säkularer Unterricht für alle Kinder und die Abschaffung von partikularen Religionsfächern sind weitere ambitionierte Forderungen. Ebenfalls überflüssig sei die gesonderte Erwähnung von Religionsfreiheit in der Verfassung, denn »dies bevorzugt jene, die zu einer der großen Religionen zählen«. Religionsfreiheit sei durch Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Demonstrationsrecht bereits ausreichend gewährleistet.

Allesamt sind dies durchaus relevante Thesen für eine inhaltliche Auseinandersetzung, die auch umgehend einsetzte. Auf der Website sargasso.nl wirft der Journalist Marcel Hulspas den Autorinnen und Autoren »Arroganz« vor: Sie wollten nur jene zur Debatte zulassen, die sich von »Hintergrund, Vergangenheit und Kultur« befreit hätten und aus rein individueller Warte teilnähmen. Auch vermutet er hinter ihrem Ziel, »nichtwestliche Niederländer« nicht von einer freien Debatte ausnehmen zu wollen, ein »Codewort für westliche Überlegenheit«.

Im NRC Handelsblad bezieht sich auch die Kolumnistin Lamyae Aharouay, eine Muslima mit Kopftuch, auf die betreffende Passage, und kommentiert: »Wenn es eine Gruppe gibt, über die in den letzten Jahren so ungefähr alles gesagt und geschrieben wurde, bis hin zur größten Erniedrigung und Verletzung, sind das die nichtwestlichen Niederländer.« Eigentlich, so Aharouay, gehe es den »Rittern des Freien Worts« »natürlich einfach um Muslime«; diese zu »bashen«, sei im Land politisch korrekt.

Nun ist es unbestritten, dass rassistische Ausfälle gegen Muslime ein Wesensmerkmal gerade des niederländischen Rechtspopulismus sind. Viele Linke regieren darauf jedoch mit einer reflexhaften Verteidigung, die oft schon einsetzt, wenn es um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Islam geht. Es ist eine Unfähigkeit zur Nuancierung, die sich exemplarisch etwa am Fall Ehsan Jamis zeigte. Der Sohn iranischer Migranten trat den Sozialdemokraten (PvdA) bei, gründete 2007 im Alter von 22 Jahren ein »Komitee der Ex-Muslime« und überwarf sich mit der PvdA. Wenig später landete er bei der Partij voor de Vrijheid (PVV). Inwischen sitzt Jami für die rechtspopulistische Partei Leefbaar Rotterdam im dortigen Stadtrat.

Es ist nicht zuletzt diese Dynamik, der sich das Manifest widersetzen will. Die Debatte unter Publizisten und in den sozialen Medien hat es tatsächlich intensiviert, wenngleich Vorwürfe vielfach reflexhaft erfolgen. Der Frage nach Säkularität wird man freilich nicht entkommen. Dafür spricht schon die jüngste Annäherung linker Parteien in Rotterdam an die »islamisch inspirierte« Partei Nida. Ihr durchaus ambitioniertes Antidiskriminierungsprogramm verknüpft sie mit der Forderung nach nicht näher bestimmten »Orten der Besinnung« im öffentlichen Raum.