Wie aus Sahra Wagenknecht eine Aufsteherin für Nation und Marktwirtschaft wurde

Die Stubenhockerin der Nation

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Die offenen Grenzen reizten Wagenknecht damals nicht: »Aber Reisefreiheit an sich bedeutet mir nichts. Irgendeine imperialistische Metropole inter­essiert mich halt nicht.« Diese sozialistisch verbrämte Stubenhockerei rechtfertigte sie auch mit plattem Antiamerikanismus: »Man sitzt überall auf der Welt in der gleichen McDonald’s-Kneipe, und auch die Gesichter derer, die da drin sitzen, werden einander immer ähnlicher.« Auf die Idee, Mc­Do­nald’s betreibe Kneipen, konnte wohl nur eine Person kommen, die sich zwar bereits eine Weltanschauung zugelegt, die Welt aber noch nicht selbst angeschaut hatte. Anders als für Sozialisten wie Karl Marx oder Rosa Luxemburg war für Wagenknecht der Internationalismus nie eine lebendige Erfahrung. Auch ihre späteren Jahre als Europaabgeordnete haben ihren früh ausgeprägten Hass gegen die »imperialistische Propagandavision« der »Vereinigten Staaten von Europa« nur verfestigt.

Niemandem ist aus seiner Herkunft ein Vorwurf zu machen. Unübersehbar sind aber die Verluste, die aus der Unfähigkeit Wagenknechts resultieren, ihre Ostzonenbeschränktheit kritisch zu reflektieren. Stets hat sie die »ostdeutsche Identität« nur als »potentiell antikapitalistisch« gefeiert. Autoritarismus und Rassismus unter Ostdeutschen erklärt sie aus kapitalistischer Verelendung, so als hätte die deutsche Ideologie nicht auch in der DDR gut überlebt, gerade weil das Land autoritär regiert und von der Welt abgeschirmt wurde. Es ist kein Zufall, dass Wagenknecht unter rechten Wutbürgern im Osten Sympathien genießt. Nichts treibt diese stärker an als das Gefühl, zuerst von westdeutschen, dann von ausländischen Invasoren überrannt worden zu sein.

Wie heutzutage die deutschen Grenzen, so rechtfertigte Wagenknecht einst die Berliner Mauer als »notwendiges Übel«: »Gezielt wurden bestimmte Berufsgruppen abgeworben: Ärzte, Akademiker, Spezialisten, die bei uns eine teure Ausbildung bekommen hatten … So ein Ausbluten kann sich keine Volkswirtschaft auf Dauer leisten.« Das »Ausbluten« verweist auf die Metapher des Volkskörpers, in dem das Individuum als Teil dem organischen Ganzen funktional untergeordnet wird. Auch die von Wagenknecht in der derzeitigen Migrationsdebatte hallu­zinierten »Ärzte aus dem Niger« haben demnach aus volkswirtschaftlichen Gründen kein Recht, über ihr eigenes Leben und ihren Aufenthaltsort zu ­bestimmen. Die Politikerin fordert die zwangsweise Unterwerfung der Ein­zelnen unter die Interessen von Nationalstaaten. Ärzte im Niger, bleibt eurer Scholle treu? Wo ist hier noch ein Unterschied zum Spruch des FDP-Posterboys Christian Lindner, niemand habe das Recht, sich seinen Standort auf der Welt auszusuchen?

Schon früh zeigten sich bei Wagenknecht neben scharfer Kritik an der bundesdeutschen Gesellschaft auch Sehnsucht nach Heimat: »Freiheit ist nicht möglich ohne Identität.« Den Staat hielt sie überdies immer für unverzichtbar angesichts seiner »vermittelnden Rolle« beim Ausgleich von »Klasseninteressen«. Das Heimweh dürfte nun ein Ende finden im Frieden mit Deutschland. Dieser Versöhnung ist es zuträglich, dass Wagenknecht als Verursacher allen Übels Fremde ausmacht, eine kleine, internationale Clique von »Superreichen« und »Spekulanten«, die hinter den Kulissen alle Fäden in Weltwirtschaft und Politik zieht. In ihrem Buch »Reichtum ohne Gier« garniert sie ihre Kritik an der »Finanzlobby« mit dem Hinweis auf die Familie Rothschild als Prototyp der »Brunnenvergifter« – so funktionieren antisemitische Verschwörungstheorien.

»Da die soziale Integration der Arbeiterklasse nicht mehr machbar ist, spricht einiges dafür, die nationalistische wieder zu versuchen.« Hat Wagenknecht diese vor langem ausgesprochene Warnung aus eigenem Munde inzwischen zu ihrer Maxime erhoben? Ihre Appelle richten sich mittlerweile jedenfalls eher an die Deutschen aller Klassen als an die Proletarier aller Länder.