Essay - Identitätspolitik und Universalismus

Die Erfindung der Weißen

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Die Wurzeln der weißen Identität liegen also in der reaktionären Opposition zum Universalismus der Aufklärung. Diese Geschichte wurde in den zeitgenössischen Diskussionen über die Politik der Identität lange Zeit ignoriert. Stattdessen wird Identitätspolitik weitgehend mit der Linken identifiziert. Aber auch hier gibt es eine historische Amnesie. In den vergangenen 200 Jahren haben Radikale, die die Ungleichheit und die Unterdrückung bekämpften, dies zumeist nicht im Namen bestimmter Identitäten, sondern universeller Rechte getan. Sie bestanden darauf, dass die Gleichberechtigung allen zukommen müsse und dass es eine Reihe von Werten und Institutionen gebe, mit denen alle Menschen am besten lebten.

Es war ein Universalismus, der die großen radikalen Bewegungen beflügelte, die die moderne Welt geprägt haben – von anti­kolonialen Kämpfen über die Bewegungen für das Frauenwahlrecht bis hin zu den Kämpfen für die Rechte der Homosexuellen. Dieser Universalismus kam vielleicht am besten in der Haitianischen Revolution von 1791 zum Ausdruck. Es ist eine Revolution, die heutzutage fast vergessen ist. Und doch hat sie die Geschichte fast so intensiv geprägt wie die beiden uns viel bekannteren Revolutionen des 18. Jahrhunderts – die von 1776 in Amerika und 1789 in Frankreich. Es war das erste Mal, dass die befreidende Logik der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte bis zu ihrem revolutionären Ende durchgespielt wurde.

Der Anführer der Aufständischen war Toussaint Louverture, ein ehemaliger Sklave und Autodidakt, sehr belesen, stark politisiert und genial in militärischer Taktik und Strategie. Seine wichtigste Gabe war vielleicht die Erkenntnis, dass Europa zwar für den globalen Sklavenhandel verantwortlich war, aber innerhalb der europäischen Kultur die politischen und moralischen Ideen vorhanden waren, um die Sklaverei gänzlich abzuschaffen. Die französische Bourgeoisie hat vielleicht versucht, der Masse der Menschheit die in der Erklärung der Menschenrechte verbrieften Ideale vorzuenthalten. Aber Louverture entdeckte darin eine mächtigere Waffe als jedes Schwert, jede Muskete oder Kanone.

Die Sklaven von Saint-Domingue rebellierten am 24. August 1791. Innerhalb von zwölf Jahren besiegten sie erst die einheimischen Weißen und die Soldaten der französischen Monarchie, dann eine spanische Invasion, eine britische Expedition mit rund 60 000 Mann und schließlich eine zweite französische Streitmacht. 1803 erkämpfte die einzige erfolgreiche Sklavenrevolte der Geschichte Haitis Unabhängigkeit.

Doch die Beziehung zwischen Antikolonialismus und dem Universalismus der Aufklärung wurde bald in Frage gestellt. Die Popularisierung des rassischen Denkens und die Ausbreitung des Imperialismus warfen für diejenigen, die sich den europäischen Eroberern entgegenstellten, schwierige Fragen auf: Wenn Europa für die Versklavung von mehr als der Hälfte der Welt verantwortlich war, welchen Wert könnten dann seine politischen und moralischen Ideen haben, die diese Versklavung bestenfalls nicht verhindern, schlimmstenfalls intellektuell begründeten? Mussten diejenigen, die gegen den europäischen Imperialismus kämpften, nicht auch die Ideen, auf die er sich berief, bekämpfen?

Mit der Zeit wurde der Widerstand gegen die europäische Herrschaft immer mehr auch zum Widerstand gegen europäische Ideen. Wie der in Algerien geborene Revolutionär Frantz Fanon bemerkte, habe Europa seine Verbrechen ausdrücklich im Namen des europäischen Geistes gerechtfertigt und die Sklaverei legitimiert, in der es »vier Fünftel der Menschheit hält«.

Aus dieser Sicht sind die Ideale, die aus der Aufklärung hervorgingen, das Produkt einer bestimmten Kultur, Geschichte und Tradition, das eine Reihe von Bedürfnissen, Wünschen und Dispositionen bedient. Nichteuropäer sollten demnach ihre eigenen Ideen, Überzeugungen und Werte entwickeln, die ihren eigenen jeweiligen Kulturen, Traditionen, Geschichten, psychologischen Bedürfnissen und Dispositionen entsprächen. Im Ergebnis entstanden eine Vielzahl separatistischer Bewegungen: Garveyianismus, Panafrikanismus, schwarzer Nationalismus, Negritude. Dies war der Ausgangspunkt für das Aufkommen einer radikalen Identitätspolitik in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.