Die Erfindung der Weißen
Identitätspolitik ist eine der bestimmenden und umkämpften Fragen unserer Zeit. Über keine Identität wird dabei kontroverser diskutiert und gestritten als über die weiße.
Manche sehen in ihr die Möglichkeit, einer Gruppe, deren Identität zuvor angeblich verleugnet worden sei, eine Stimme zu geben. Andere betrachten sie lediglich als einen Ausdruck von Rassismus.
Die Behauptung einer weißen Identität rückt im Zuge des wachsenden Populismus von Politikern wie Donald Trump in den USA, Victor Orban und Matteo Salvini in Europa, wachsender Feindseligkeit gegen Einwanderung sowie verstärktem Nativismus auf die Tagesordnung. Dabei wird in gegenwärtigen politischen Debatten Identitätspolitik meist als eine Strategie vornehmlich von Linken, Minderheiten und unterdrückten Gruppen verhandelt. Die weiße Identität erscheint demzufolge als Nachzügler, als ein Versuch von Weißen, den Erfolg anderer Minderheiten nachzuahmen.
Diese Deutung ist allerdings falsch; vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Identitätspolitik kommt ursprünglich nicht aus der Linken, sondern aus der reaktionären Rechten. Radikale Varianten von Identitätspolitik entstanden erst sehr viel später. Die zeitgenössische weiße Identität beansprucht vielmehr die Rückerstattung ihres ureigenen reaktionären Erbes.
Um diesen Zusammenhang verstehen zu können, muss man die Geschichte der Identitätspolitik zu ihren Ursprüngen zurückverfolgen. Das bedeutet, die Geschichte der Identitätspolitik zu erzählen, bevor diese die Bezeichnung Identitätspolitik überhaupt bekam. Das betrifft viele Bereiche und ein breites Themenfeld, weshalb diese Darstellung zwangsläufig viele Aspekte bündeln muss und viele Nuancen nur im Vorbeigehen streifen kann.