In Taiwan haben die Kritiker der Volksrepublik China die Wahlen gewonnen

Schlappe für den großen Nachbarn

In Taiwan haben bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen die Kräfte gewonnen, die für progressive und liberale Werte sowie für mehr Unabhängigkeit von der Volksrepublik China eintreten.

Es war ein Rekordergebnis: Bei den Präsidentschaftswahlen am Samstag wurde Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen mit über acht Millionen Stimmen im Amt bestätigt, also von fast der Hälfte der über 19 Millionen Wahlberechtigten. Es war die höchste Stimmenzahl für eine Kandidatin oder einen Kandidaten seit der ersten freien Präsidentschaftswahl in Taiwan im Jahr 1996. Tsai erhielt 57 Prozent der abge­gebenen Stimmen, ihr Herausforderer Han Kuo-yu gut 38 Prozent. Auch Tsais Partei, die Demokratische Fortschrittspartei (DPP), konnte bei den gleichzeitig stattfindenden Paralamentswahlen trotz geringer Verluste ihre absolute Mehrheit verteidigen. Damit erhält Tsai ein Mandat, ihre Reformpolitik fortzuführen und eine kritische Haltung gegenüber der Volksrepublik China zu bewahren – eine Überraschung für viele Beobachter.

Noch gut ein Jahr zuvor, im November 2018, waren die Präsidentin und ihre Partei bei den Lokalwahlen für ihre Arbeitszeit- und Beamtenpensionsreformen abgestraft worden. Der Widerstand der Basis war so heftig, dass sich Tsai nach schweren Stimmenverlusten gezwungen sah, das Amt der Parteivorsitzenden abzugeben. Mit einem neuen Premierminister, Su Tseng-chang, an ihrer Seite und einer neuen Kommunikationsstrategie schaffte sie es allerdings innerhalb eines Jahres, die Mehrheit der Bürger und vor allem junge Wähler von ihrer Politik zu überzeugen. Eine entscheidende Rolle spielten dabei Taiwans Beziehungen zur Volksrepublik China und die Proteste in Hongkong.

Während ihrer ersten Amtszeit (seit 2016) hatte die 63jährige Tsai Distanz zum großen Nachbarn Volksrepublik gewahrt und versucht, Taiwan auch wirtschaftlich aus der Abhängigkeit von Festland-China zu führen. Die ­dortigen Behörden quittierten das mit einem Tourismusembargo und dem Abwerben von sieben von Taiwans wenigen noch verbliebenen diplomatischen Verbündeten. Zudem machte der chinesische Staats- und Parteiführer Xi Jinping im Januar 2019 deutlich, dass die Volksrepublik für eine Vereinigung mit Taiwan das Hongkonger Modell »Ein Land, zwei Systeme« anstrebe. Diese Vorstellung stößt im ­Zusammenhang mit der gewaltsamen Niederschlagung der Hongkonger ­Protestbewegung seit Juni vergangenen Jahres in Taiwan auf starke Ablehnung.

Angesichts der massenhaften Internierung von Muslimen im Westen Chinas (Jungle World 28/2019) und der Unterdrückung der Proteste in Hongkong konnte Tsai ihr Profil als Verteidigerin der territorialen Souveränität und des demokratischen Regierungssystems weiter schärfen. Demokratie und Diktatur, so Tsai, könnten in einem Land nicht koexistieren. Ihr unbeholfener politischer Gegner spielte ihr dabei noch in die Hände, denn die Nationale Volkspartei (Kuomintang, KMT) hatte auf ihrer Liste Kandidaten aufgestellt, die nicht nur die Hongkonger Polizeikräfte in Schutz nahmen, sondern zuvor auch öffentlich für eine Vereinigung mit Festland-China eingetreten waren. Das lehnen nicht nur junge Menschen in Taiwan ab.

Zwar ließen Tsais Umfragewerte kurz vor der Wahl schon auf einen bevorstehenden Wahlsieg schließen, aber der Aufruf ihres Gegners an seine Unterstützer, bei Meinungsumfragen vorsätzlich falsche Angaben zu machen, hatte die Verlässlichkeit der Umfrageergebnisse in Frage gestellt und den Wahlausgang schwer vorhersehbar gemacht. Der eindeutige Sieg gegen Han, den Herausforderer von der KMT, kann vor allem auf die hohe Wahlbeteiligung von fast 75 Prozent zurückgeführt werden. Viele Jung- und Erstwähler waren entsetzt von der prochinesischen Haltung und populistischen Rhetorik des 62jährigen Bürgermeisters der südtaiwanischen Hafenstadt Kaohsiung.

In einem Wahlkampf, der seitens Kuomintang von frauenfeindlicher Rhe­torik und Falschbehauptungen geprägt war, bewahrte die Juristin Tsai stets ­einen kühlen Kopf. Han und hochrangige Mitglieder seiner Partei hatten nicht nur sie persönlich, sondern auch andere Kandidatinnen auf Grundlage ihres Aussehens oder ihres Geschlechts angegriffen. Ketty Chen, die stellvertretende Vorsitzende der Taiwan Founda­tion for Democracy, ist überzeugt, dass die frauenfeindliche Rhetorik Tsais politischer Gegner vor allem junge Menschen abgeschreckt habe, die sehr viel progressiver und toleranter seien als ältere Generationen. »Wenn ein Politiker zum Beispiel ledige oder kinderlose Frauen diskriminiert oder sich über ihr Aussehen lustig macht, dann schwächt das die Bereitschaft junger Leute, für diesen Kandidaten und letztlich auch für dessen Partei zu stimmen«, sagte Chen der Jungle World. Diese Wahl sei nicht nur eine Absage an die Bedrohung durch einen autoritären Staat gewesen, sondern auch ein Votum für progressive und liberale Werte.

Dafür spricht auch die Reaktion der Wählerinnen und Wähler Tsais. Als die Politikerin in ihrer Rede am Samstagabend ihre Erfolge der vergangenen vier Jahre Revue passieren ließ, jubelten ihre Fans am lautesten über Tsais Eintreten für die gleichgeschlechtliche Ehe und ihre Ablehnung des Modells »Ein Land, zwei Systeme«.