Alles aufschreiben, bis man weg ist

Beiträge aus Weblogs von Bastian Albers, Bov Bjerg, Günter Hack, Marcus Hammerschmitt und Peter Praschl

Feiertagsmorgensadness. – Sie war einsachtzig groß, Haare tomatenrot gefärbt, stand am Bahnhof, wartete aufs Tram. Sie war der erste Mensch, an dem ich jemals ein Kleidungsstück der abgestürzten Dotcom-Wunderfirma skim.com gesehen habe. Skim.com hat seinerzeit seine Kleidungsstücke und Accessoires mit Nummern individualisiert. Die Nummer war gleichzeitig Bestandteil einer E-Mail-Adresse. Die Idee war, dass Leute sich die Nummer des Skim-Klamottenträgers notieren und ihm/ihr dann eine Mail schicken können. Hätte sich die Idee durchgesetzt, gäbe es heute Skim-Spammer.

Nun gut, jedenfalls trug diese ketchuprothaarige und marushoid ponyfrisierte Raverfrau einen Skim-Fannybag und sah überhaupt aus wie ein Gespenst aus den Neunzigern, eine ins Leere gelaufene DJane, die gerade ihre letzten Gabber-Platten für ein Ticket zu einem ihrer Ex-Lover in Zürich versetzt hat, um nochmal auf der Street Parade den nach alten Socken riechenden Hauch alter Zeiten einatmen zu können. Die alternative Idee ist, dass die Schweiz nun ihre Variante der neunziger Jahre durchlebt, nachdem die Achtziger mit ihrem penetranten Identitätsfindungskram nun rum sind. Das Tram rattert weiter, am Central steigt dann eine junge Harfenistin mitsamt Instrument zu. Sie zieht das schwere Ding schnell und geschickt in den Wagen, findet einen Platz. Ihr Lurex-Top fängt müde Sonnenstrahlen.

29. Mai 2003, Hirn & Verbrannt

*

Kastanien. – (Viel früher: Die Alten gehen von Grab zu Grab, einpflanzen, auspflanzen, mit Reisig winterfest machen, beten. Du sammelst Kastanien. Jeden Herbst.) Heute: wieder der Gang über einen Friedhof, Kastanien im zerrupften Gras. Jeden Herbst das gleiche, jeden Herbst dieses Nebeldiesige, jeden Herbst die Hände in den Manteltaschen, jeden Herbst die Kastanien auf der Erde. M. hat eine Digitalkamera dabei, das ist neu in diesem Jahr. Dass die Toten einfach tot bleiben, das könnte einen schwindelig machen.

23. Oktober 2003, Eier Erbsen Schleim & Zeug

*

Chansonabend. – Ich komme etwas zu spät am verabredeten Treffpunkt an. Dort steht T. aber schon. Direkt um die Ecke. Wir gehen zu der Bar. Etwas wundern wir uns, als wir schon am Eingang keinen Eintritt zahlen sollen. Aber T. geht sofort zielstrebig durch nach hinten. Die Künstler sind ihm bekannt. Ich gehe hinterher, vorbei an den paar Gestalten, welche mit Sicherheit seit ihrer Geburt in Westberlin leben. Einer von ihnen sieht so aus, als würde er schon seit seiner Geburt Schultheiss trinken.

Wir treffen auf den Typen, der etwas verloren alleine im Hinterraum steht. Wir sind offenbar die einzigen zahlungswilligen Gäste bisher. »Eine tote Gegend ist das hier«, hmm, scheinbar. Er wechselt einige Worte mit T. über Leute, die ich nicht kenne. Wir plaudern über dies und das und er erzählt, dass das Ganze hier wohl heute nicht stattfinden wird. »Die machen das hier erst ab zehn Gästen«. Wir sind zwei. Keine Ahnung ob von denen vorne jemand zahlendes Publikum ist. Die Barfrau kommt nach hinten. T. fragt, wie es denn sonst so hier ist. »Da muss man wohl auf beiden Seiten die Schuld eingestehen!« – ? – »Wenn sie keine Werbung machen und ich nicht genug, dann kommt auch niemand. Aber wir müssen davon leben, so ist das in der Kleinkunst.« Von uns kann niemand so recht was antworten. Ich erbarme mich: »Das war doch nicht als Vorwurf gemeint...«, aber nichts zieht. Hier wird heute abend kein Frieden geschlossen. T. fragt, ob denn heute noch gesungen wird. Sofort blockt die Barfrau ab. »Erst ab zehn Leuten.«

C., die Sängerin, kommt von hinten aus dem Umkleideraum. »Du hast dich ja schon wieder umgezogen.« Ja, hat sie wohl. Ich schaue zum ersten Mal heute abend auf mein Handy und überlege schon an Ausweichplänen. Langsam werde ich auch hungrig. Aber hier ist es noch interessanter. C. hat vorne irgendwen entdeckt, nutzt direkt die Chance nochmals vor der Bar zu demonstrieren, dass sie hier gerne gesungen hätte. »Schade, dass du gerade heute kommen musstest …«

Der Klavierspieler fragt uns, was wir denn so tun. Wir erzählen ihm, dass wir Wirtschaftsingenieurwesen studieren. Das findet er super. Ja, denke ich, dachte ich mir, dass du das super findest. Er ordnet uns zunächst als Techniker ein, versteht später dann aber – nach zahlreichen Erklärungen von T. über die Nützlichkeit von Wirtschaftsingenieuren – wozu wir wirklich gut sind. T. erklärt, dass ich was mit Informations- und Kommunikationssystemen mache. »Ahh, Nullen und Einsen.« Genau. Er redet immer wieder von Buddhismus, dann wieder davon, dass er schon zehn Schönheitsoperationen hinter sich hat, von den Rentnern, vor denen er gestern gespielt hat. Er erklärt uns, dass es ihm völlig egal ist, was er macht, Hauptsache, die Masse des Publikums stimmt.

Irgendwann kommt er auf die Lage des Landes zu sprechen. »Das Problem ist, dass hier immer alle mitgezogen werden. Oder etwa nicht?« – »Das sehe ich anders.« Er sieht mich fragend an. Ich erkläre, dass manchen Leuten durchaus geholfen werden muss, dass mancher einfach nicht alleine kann. Er erzählt, dass er früher immer so ein Spinner war, einer, der nie Auto gefahren ist, einer der zuerst total links war, dann total rechts, Hauptsache, nicht normal. Er habe so komische Vorstellungen von Spießigkeit gehabt, habe mit Künstlern zusammen gewohnt, freie Liebe und so, er wäre immer so total der Klassiktyp gewesen, aber jetzt macht er Dinge, mit denen er mehr Publikum erreichen kann. »Hauptsache Masse, man muss die Leute erreichen. Sowas wie heute hier, nee, das muss ich mal hinter mir lassen. Schlager. Die Alten. Da stecken in den nächsten Jahren zig Milliarden Potenzial drin.«

Dann sinniert er noch drüber, welchen Künstlernamen er sich wohl zulegen sollte. Ich habe leider seinen Namen schon wieder vergessen. Er nennt ein paar Namen, bei einem hält er kurz inne, sieht uns an und fragt: »Zu jüdisch?« Ich bin froh, als wir endlich abhauen. Ich habe ihm immerhin die Hälfte geglaubt von dem Zeug, was er so von sich gegeben hat. Mehr zu glauben hätte ich nicht ertragen.

29. November 2003, Mamassiv

*

Geburtstag. – Man möchte ihn sich nicht vorstellen, den Mann, der Oldie Radio 95 wissen lässt, dass seine beiden Katzen am kommenden Dienstag ihren zweiten Geburtstag begehen, und sich als Geburtstagsständchen »Stand by Your Man« wünscht. Aber man kann es dann doch nicht lassen.

14. Juni 2003, Sofa

*

302 Bewegungen in Form eines Hammers. – Der Wind treibt einen ganz von selbst durch die Straßen, also kann man es nicht »ziellos« nennen, denn es kostet schon Kraft, überhaupt auf der Stelle zu treten, vorwärts zu gehen, dorthin, wo das Hirn einen hintreibt, von einer Seele ganz zu schweigen. Wenn man alles in sich zum Schweigen bringen will, muss man in ein Einkaufszentrum gehen. So ein Einkaufszentrum ist für mich kein böser Ort und auch keiner, der religiöse Metaphorik vertragen würde, sondern nur ein Ort zum Hindurchgehen, am Eingang schon die bunten Schilder und der Kebabspieß und die jungen Männer in den schattenfarbenen Lederjacken, darin dann generell das Ausgetretene, auch das visuell Aufgebrauchte.

Ein Schild weist auf den »Mausi Markt« hin und ich muss nicht wissen, was das ist, für einen Mann in meiner Branche außergewöhnlich und beruhigend. Eine Buchhandlung heißt hier »Books & Co.« und die vier Mobilfunkgemischtwarenläden werden von dunklen Bodybuildern und ihren schwindend schmalen Freundinnen betrieben. In den kleineren Geschäften stehen keine Kunden, sondern nur die nervigen arbeitslosen Kumpel der selbst bald ruinierten fünfundzwanzigjährigen Ladenmieter, die allesamt bereuen, nicht doch mit ins familieneigene Restaurant eingestiegen zu sein. Die nächste Generation von Olivenöl-selbstabfüllenden Ich-AGs steht schon bereit, sie wird noch mehr Ladenmiete zahlen müssen, auch dem Vermieter geht es schlecht.

Im Forumsbereich drängen sich sedierte Kinder, man wartet auf ein Kasperletheater, die Elternteile sehen aus, als wären sie dankbar dafür, dass die Kinder gerade ihre Aufmerksamkeit binden. Aus den Lautsprechern duftet eine Alle-machen-mit-Musik, gegen die sich die Werke von Vader Abraham und Michael Schanze wie substanziellere Nummern von John Lee Hooker anhören. Die Supermarktgänge dahinter werden professionell von Angestellten blockiert, ab und zu werfen ungeschickte Kunden Sonderangebotsproduktpyramiden um, alles ist zerstreut, verstreut, ich tanze darüber weg, versuche den Überfluss zu fühlen, es gelingt mir nicht.

Über der Kasse hängt ein grüngelbes Plakat mit der Aufforderung »Werden Sie Friend – Als Friend genießen Sie Zahlungsaufschub«. Wie aber kann ich mit einem Supermarkt befreundet sein, wenn ich noch nicht mal mit mir selbst klarkomme? Ein Rentner will wissen, ob er für seinen Friend-Gutschein statt Almdudler auch Cola kriegen kann. Bevor die Kassiererin das mit der geschäftsführenden Datenbank klären gehen kann, schaffe ich es noch, ihr mein Geld aufzudrängen. Der Rentner entschuldigt sich, die Kassiererin verschwindet im Hintergrund, der Rentner vermag ihr nicht zu folgen. Eine Stimme verspricht mir himmlische Genüsse aus der Tiefkühlabteilung. Ich gehe. Ich überantworte meinen Körper dem Wind.

18. November 2003, Hirn & Verbrannt

*

Unistädte. – (1) Mutternahe Heimschläferstädte. Städte, in denen die studieren, die den Aufwand scheuen, den Jugendzimmerschreibtisch ins Umzugsauto zu wuchten. Tübingen, Oldenburg, München – solche Orte. Ein Semester nach der Regelstudienzeit (»die Fahrerei!«) erwirbt man Magister oder Diplom, es folgt unverzüglich eheliche Bindung an einen Partner mit eigener Bleibe, bevor die alten Eltern anfangen können zu kränkeln.

(2) Die lebensfernen Ghettos der Geistesgurus. Hier hat der Lern- und Lesetag 22 Stunden, anschließend Sport (Nachtrudern, Mondpolo, Eulenschießen). Spezialistenstädte, die ahnungsfroh vibrieren, wenn das wichtigste Event des Quartals bevorsteht – das neue Heft der Zeitschrift für Bergrecht! Städte mit dem Klang alter Nazi-Offiziere: Clausthal-Zellerfeld. Witten-Herdecke. So zackig verläuft auch das Studium: Nach drei Semestern Promotion, anschließend Habilitation. Momente der Umweltwahrnehmung sind selten. Zweibeiner, die in so einen Moment hineinplatzen, werden geheiratet. Widrigenfalls: sukzessive Verhagestolzung.

(3) Stadtstädte. »Nein, Mama, das ist eine ganz spezielle Art der Germanistik (Stadtplanung / Sozialarbeit / Elektrotechnik). Das kann man nur in Berlin studieren. Ja, das find ich auch blöd, dass Berlin 600 Kilometer weg ist. Da kann ich nur selten nach Hause kommen, das ist schon schade. Ja, mir wär das auch lieber, wenn die Stadt nicht so groß wär. Vor der vielen Ablenkung graust es mich jetzt schon.« Folgt gedehntes Studium, evtl. Zwischenprüfung. Mäandernde Praktika in Webdesign (kopieren), Kulturmanagement (kopieren) und Werbeagentur (kopieren). Anschließend feste Anstellung im Copy-Shop.

Dämon Alkohol streckt seine Krallen schon aus, wenn das erste Semester noch gar nicht begonnen hat. Eine Kaschemme, irgendwo an der U7. Der junge Mann hängt haarezausend über einem grünflaschigen Studentenbier. Er hat sich völlig vermietet. Vermietet wie in: verfahren, verlaufen, verirrt. Er grummelt: »Der hat gesagt, dass Spandau gleich bei Friedrichshain liegt. Woher soll ich denn wissen, dass der lügt?« »Mal in den Stadtplan schauen?« »Stadtplan? Stadtplan ist was für Newbies!« »Du bist ein Newbie.« »Ey, ich bin jetzt seit drei Wochen hier. Nach drei Wochen ist man kein Newbie mehr. Naja. Wenigstens wohn ich jetzt in der Hauptstadt. Schon cool.« »Hauptstadt? Mensch, du wohnst in Spandau! Und du hast diese Butze für zwei Jahre gemietet! Du hättest genauso gut nach Clausthal-Zellerfeld ziehen können.« Der Haarezausende jault auf: »Clausthaaaaal! Zel-ler-feld?« »Heul nicht. Guck, wenn du in Spandau wohnen bleibst, und vieles spricht dafür, dann bist du mit dem Studium viel früher fertig. Das ist doch auch was.«

16. Oktober 2003, Eier Erbsen Schleim & Zeug

*

Gegenschall. – In der kleinen Fabrik, einen Steinwurf von hier, führt ein Alphatier Regie. Man hört sein Gebell, aber nicht, was es sagt. Produktpräsentation? Betriebsversammlung? Großkampftag an der Drehbank mit Endausscheidung zum Bestarbeiter des Monats? Man weiß es nicht. Schließlich kann meine laufende Waschmaschine es nicht mehr ertragen und fängt an, die Wäsche zu schleudern. Sie rattert und schrappelt so sehr, dass selbst das Alphatier nicht mehr durchdringt. Aufstand der Maschinen!

25. Juni 2003, Instant Nirvana

*

Auschwitz. – Ach, und der Auktionator auf Juist hieß Werner Auschwitz, und in seinem Schaufenster ein Schild mit der Überschrift »Kaufen Sie nicht …«, es waren dann aber Anlagediamanten und ähnliches, denn er, Werner Auschwitz, stünde gerade in erfolgsversprechenden Verhandlungen, nach deren erfolgreichem Abschluss man die Anlagediamanten etc. vermutlich bei ihm billiger als anderswo bekäme.

2. November 2003, Sofa

*

Castortransport. – Der Castortransport geht durch unsere Stadt, als ich in der 13 bin. Im Schulunterricht gibt es eine Diskussion um angemessene Demonstrationsmethoden. Ich stelle mich auf den Standpunkt, dass Sachbeschädigung bis zu einem gewissen Maß und das Kosten verursachende Aufhalten von Transporten in Ordnung gehen können, wenn es offenbar keine andere Möglichkeit gibt, dem Protest Gehör und Gewicht zu verschaffen. Gehör verschaffen? Wir leben doch in einer Demokratie. Da kann jeder sagen was er meint. Gewicht verschaffen? Unser Geschichtslehrer fragt, wer denn im Kurs eigentlich überhaupt gegen Atomkraft sei. Ich melde mich als einziger.

In der darauf folgenden Diskussion muss ich mir einiges anhören. »Die Atomkraftgegner duschen doch auch mit warmem Wasser!« »Alle anderen Energien sind doch viel umweltschädlicher.« »Alle anderen Energien sind doch viel teurer!« Meine Gegenargumente und Fragen gehen ins Leere. Besonders auf die Frage, ob sie denn ein Endlager in ihrer unmittelbaren Nähe akzeptieren würden, will niemand so recht eingehen. Also greife ich zu drastischeren Szenarien. Super-Gau. »Ach was, die Atomkraftwerke in Deutschland sind die sichersten der Welt.« »Da wird nie etwas passieren.« »Atomkraftwerke in anderen Ländern sind doch viel unsicherer! Wenn wir unsere zumachen, dann steigt die Gefahr, weil der Strom dann aus anderen Ländern kommt!«

Für mein letztes Szenario ernte ich endgültig nur noch verwirrte Blicke. Ich werde fast in der Zwangsjacke hinausgeführt, für so abwegig hält man meine Idee. »Was wäre denn, wenn sich ein paar durchgeknallte Glaubensfanatiker mit einer Bombe in so ein Werk schleichen würden?« – »Die Sicherheitsmaßnahmen sind viel zu hoch, das könnte nie passieren!« – »Und wenn sie mit einem Flugzeug reinfliegen würden?« – »...?... Du spinnst doch...«

24. September 2003, Mamassiv

*

Politische Bildung. – Eine Bahnhofsbuchhandlung in Stuttgart. Vorne das übliche Zeug, weiter hinten das Material für die Kritischen. Wenn man sich ansieht, wovon die globalisierungskritische Buchwelt (Klein, etc.) umgeben und durchwachsen ist, könnte man das Fürchten bekommen. Oswald Metzger leistet sich einen Einspruch gegen den geplanten Staatsbankrott, als werde er persönlich gerade beraubt. Die Person Bush scheint ein großes Problem für die Welt zu sein, Amerika als Ganzes noch mehr, aber Bush ist ja ganz Amerika. Es gibt nur ihn, den heuchelnden, dummen Texaner, der die Welt mit Krieg überzieht.

Auf den Buchdeckeln des globalisierungskritischen Merchandisings umklammern Kraken die Welt, markieren Großkonzerne mit ihren Markennamen rasierte Männerköpfe, wehen zerfetzte amerikanische Banner, usw. usf. Manche Bücher beschäftigen sich mit Gier, als sei sie das Problem. (Oswald Metzger nickt von seinem Buchtitel herunter, ihn beschäftigt vor allem die Gier der Armen.) Die Kritik ist immer persönlich, symptomatisch oder moralisch, es geht immer um Turbokapitalismus, immer um miesen Charakter, die Schlechtigkeit eines Menschen, einer Clique, nie um die Sache selbst, die es bei all dem Getöse um ihre Auswirkungen gar nicht wirklich zu geben scheint. Auswüchse werden diagnostiziert, die der Milderung harren, tief sitzende Probleme, deren Sitz nie benannt wird, Antworten werden ausgestreut wie Löschsand, der die darunter liegenden Tintenflecken der falschen richtigen Fragen aufsaugt, bindet, neutralisiert.

Leute, die verdächtig Oswald Metzger oder Peter Scholl-Latour gleichen, stehen am Eingang dieses Fußballstadions und verteilen die Platzkarten. Jeder kriegt auch noch ein Buch nach seinem Geschmack, von Naomi Klein oder Arundhati Roy, es spielt ja nicht so eine große Rolle letztendlich. Jeder soll in seinen Block gehen, damit es anfangen kann. Für die Ultras stehen die Hundertschaften schon bereit.

29. Juni 2003, Instant Nirvana

*

Fliegende Farben. – Ich dachte mir neulich: Die Nationalfahnen werden immer größer. Früher noch kleine bunte Tücher über Uferpromenaden, heute groß und weit flatternd, riesig. Warum? Bis mir eingefallen ist: Heute müssen sie wieder die Särge ganz bedecken können.

1. Dezember 2003, Hirn & Verbrannt

*

Danke. – Lieber Adolf Hitler! Danke, dass du schon tot bist. Wenn du so richtig alt geworden wärst, würde das Fernsehen jetzt lauter so differenzierte Sendungen über dich bringen. Wo einem deine Ästhetik erklärt wird und so. Und wie modern du damals warst.

31. August 2003, Eier Erbsen Schleim & Zeug

*

Dodo Mètro Boulot Dodo. – Seit Wochen nur noch Dodo Mètro Boulot Dodo, immer hart am Sebastian-Deisler-Syndrom. Die weißen Flaggen, die man hissen möchte, hisst man nur deswegen nicht, weil es zu jedem Sankt Sebastian einen Uli Hoeneß gibt, der Kommuniques durchgibt, aus deren Großzügigkeit doch nur die harte Hand des Plantagenbesitzers droht. Die paar Ausgänge zwischendurch: Als würde man in eine dieser Castingshows gestoßen. Ohnehin ähnelt die eigene innere Stimme zunehmend dem Geblöke eines Thomas Stein. »Das reicht nicht«, sagt sie, »das könnte besser sein, du versuchst dich schon wieder am Falschen, das ist nicht genug.« Beim Samstagritual Milchkaffee Osaft Blaubeermüsli Lachsbagel taz Jüdischeallgemeine Bildzeitung Vogue im »It’s Fresh«, zehn versunkene Minuten darüber nachgedacht, wann denn endlich diese Hamburg-New York-Tokio-Moskau-Uhren wieder abgenommen werden.

Zum hunderttausendsten Male ganz fest beschlossen, dieses Drecksblatt taz nicht mehr zu lesen, mich zum hunderttausendsten Mal dafür geschämt, immer noch Sätze wie »jetzt lese ich die taz aber wirklich nicht mehr« zu denken, danach im Stilwerk Weihnachtsschmuck angeschaut, dabei bemerkt, dass es jetzt Dirty Talking-Kühlschrankmagneten gibt.

Den Rest des Samstags gegen das Einschlafen gekämpft, den Kampf gegen das Einschlafen verloren, Badewanne, Weblogs gelesen, Sex, danach den »Bachelor« gesehen, mein Lieblingssatz daraus: »Ich habe mich mit ihm toll unterhalten können, er hat ja auch BWL studiert«, danach wieder geschlafen. Heute »Findet Nemo« mit den Kindern, die billigen ethnic diversity-Tricks da drin, »ach lass doch«, sagt die Thomas-Stein-Stimme, »Hauptsache, es knallt«, zur Kinokarte gibt es ein Buch geschenkt, von dem man erst später herausfindet, dass es sich dabei um ein »Findet-Nemo«-Sammelkarten-Sammelbuch handelt, die Großzügigkeit von Plantagenbesitzern eben.

Geistererinnerungen an das Hotel in Leipzig Samstag vor einer Woche, wie Günther Emmerlich neben mir an der Bar saß, sich an seinem Bier und seiner Zigarette festklammerte, merkwürdige Männergeräusche machte (ahm, mhm, krchz), sonst aber wie tot wirkte, die drei Monitore im Messehotel, die permanent nur die Börsenkurse, die Ankünfte und die Abflüge zeigten, endlich begriffen, dass es sich in Foucaults »Ordnung der Dinge« bei dem Satz, dass der Mensch nur eine Fußspur im Sand sei, um die endlich korrekte Reformulierung des Kategorischen Imperativs handelt. Morgen wieder dodo mètro boulot dodo.

23. November 2003, Sofa

*

Sechs Kästchen, in der Mitte ein Punkt. – Mails nicht abgeschickt, Weblogeinträge verworfen. Wer sich auf den Adrenalinlevel der Meinungsfrohen begibt, hat schon verloren. Bush ist Hitler, das ist Common Sense. Überfall auf Polen! Und dass die Demos viel zu lasch sind. Ja, wenn die Demonstranten die US-Botschaft stürmen würden, da wäre man ganz vorne dabei! Aber so? Eine Kettenmail, Petition gegen den Krieg: einfach da unterschreiben, weiterschicken, ist bestimmt nicht zu viel verlangt. Wenn man schon nichts machen kann.

Zwei Einladungen, Aufforderungen, sich aktiv an einer Unterhaltungsveranstaltung gegen den Krieg zu beteiligen (Attachments: je 1,5 MB). Fünf Mails, die das Wort »Gutmensch« enthalten. Wenn ich das Wort Gutmensch höre, entsichere ich meinen Revolver. Von wem? Nein, Goebbels. Ja, ich bin Goebbels. Wenn das Hühnerauge größer wird, fang ich bald an zu hinken. Dann geh ich zu Bush, der hat bestimmt nen Job für mich. Geopolitische Prognosen: UN, Frankreich Deutschland Belgien. Russland. China. Wenn die Chinesen erst einmal ... In Listenmails aus dem Jugoslawienkrieg gekramt. Wer als erstes »Bodentruppen« sagte, war der Analyse-King. Bodentruppen einsetzen, man muss Herrgott nochmal doch endlich Booodentruppen einsetzen!

Bei der Post Formular für Kreditkarte geholt, ohne Kreditkarte kann man kein Auto mieten da drüben. Mein Monatsnettoeinkommen beträgt: Sechs Kästchen, in der Mitte ein Punkt. Der Punkt soll die Kommastelle markieren, denkt man. Die wollen’s aber genau wissen. Es gibt doch gar keine tausendstel Euro, denkt man. Mit H. in USA telefoniert. Anfeindungen? Er lacht. Die Leute haben einfach starke Meinungen. Das ist der Krieg, sagt er. Krieg polarisiert. Ganz einfach.

21. März 2003, Eier Erbsen Schleim & Zeug

*

Balkanisierung. Kleingartenkolonien, Flaggen im Garten, Schutzzone, jedem sein eigener Staat. Es ging hoch her, Putengriller, gib bloß Acht aufs Cholesterin.

30. Mai 2002, Sofa

*

Mit allem. – Noch schnell über den Markt. Schon dunkel, unmöglich einen schwarzen Faden von einem weißen zu unterscheiden. Man kann etwas essen gehen, weiter nüchterner Saal, ein Mensch drückt sich ins Eck, es läuft Türkpop, der Fernseher ist auf stumm geschaltet und strahlt Bilder von rauchenden Gebäuden in Istanbul in den Raum. Die Terrorexperten des türkischen Fernsehens, auch sie haben dieses maliziöse Lächeln, dieses irrwitzige Augenfunkeln jener Menschen, die gerade gebraucht werden und die ankündigen, dass sie in naher Zukunft noch viel öfter gebraucht werden würden, worin sich die Substanz ihrer Aussagen auch schon erschöpft.

Der Kellner nickt, man isst und trinkt und schaut. Nichts. Überm Markt ist Nacht, dann noch an der Hinterhofmoschee vorbei, vor deren Fraueneingang sich kichernde kleine Mädchen versammelt haben, die sich gegenseitig die weißen Kopftüchlein zurechtzupfen, nur keinen Blickkontakt, die religiöse Großraumprivatsphäre wahren, vor allem den Respekt, den Respekt. Es ist friedlich in mir drin, ich denke an Gutes und lächle, gehe vorbei, eins der kleinen Mädchen, Kopftuch fertiggezupft, dreht sich plötzlich um, strahlt mich an und sagt: »Grüß Gott!«

21. November 2003, Hirn & Verbrannt

*

Experten. – Autorentreffen. Ehemaliges Kloster, ehemalige Euthanasieanstalt (ca. 3 000 Leichen): Der Ort hat eine unerträgliche Geschichte. Sie wird von allen Anwesenden ertragen. Ich bin als Experte zum Expertengespräch geladen. Thema: Alle Schriftsteller lügen? Ein sehr interessantes Thema, wie ich finde. Andere Experten sind außerdem im Zivilberuf auch noch Feuilletonchefin, Lektor, Professor oder Bibliothekar. Die Diskussion hat Feuer, aber als sie sich auf bescheidenem Niveau an der Frage »Was ist Wahrheit?« festbeißt, ist sie gelaufen. In der darauf folgenden Nacht schlafe ich schlecht. Das ist ja wohl das Mindeste, sagen die dicken Mauern.

6. Januar 2003, Instant Nirvana

*

iFeldherr. – Sehr eigenartig natürlich auch, wie alle möglichen Leute, für die es ein Tisch, ein Bett, eine Glotze, ein Computer, eine Nasszelle und ein Latte Macchiato vollauf tun, jetzt unentwegt über »die ganze Region« oder den »ganzen arabischen Raum« schwadronieren.

13. März 2003, Sofa

*

s/w. – W. erzählt, er habe jetzt seiner alten Mutter, die in einem sächsischen Pflegeheim lebe, die einzige Fotografie geklaut, die von seinem in Stalingrad gefallenen Vater existiere. Der Vater habe sich selbst fotografiert, mit einer Stativkamera, die er auf einen Wandspiegel gerichtet habe. Auf dem Foto sehe man den Raum hinter der Kamera und die Kamera selbst. Vom Vater sei nur ein Teil des Oberkörpers zu erkennen. Sein Gesicht sei völlig von der Kamera verdeckt.

25. Juli 2003, Eier Erbsen Schleim & Zeug

*

Hundsgeschichte (Der Vergleich). – Freunde sind besser als ein Hund. Zum Beispiel sind sie auch nicht so teuer. Einem Hund muss man jeden Tag zu fressen geben, bei Freunden macht man einmal Obstsalat und kann dann zweimal fressen. Bei ganz guten sogar dreimal. Haben Sie vom Hund schon einmal einen Obstsalat bekommen? Na also. Beileibe nie! Ich bin vegetarisch. Wenn ich schon eine Dose Hundegefress aufmach, kommt mir das ganze Obst oben raus, allein von daher wie das riecht, und das ist erst eine Schweinerei. Kriegt keiner mehr getrennt. Oben ist mehr Obst, unten ist mehr Fleisch, aber zwischendrin ist Sodom und Gomorrha. Muss man alles wegschmeißen. Und so ne Hundedose, die ist auch keine Plastiktüte: geht auch was daneben. Hundegefress, Obstsalat, Kuchi: alles am Arsch. Und kosten tut es auch, da schmeißt man sich bei weg.

Soviel zum Futter. Dann die viele Scheiße. Ein guter Freund, der macht das nicht. Sie gehen mit Ihrem Freund mal Gassi, und plötzlich muss er mal. Und eh man sich’s versieht, zieht er die Hose runter, und wo vorher Gras war, ist ne dicke Wurst. Oha! So Freunde will ich nicht, und meine sind nicht so. Oder hat ihr bester Freund schon mal ein Kind tot gebissen? Hunde können das. Sie sehen ein Kind, sie starren es an, sie reißen die Fress auf, und schon ist es hin. Ja, dann kommt die Polizei und plötzlich ist es Ihre Schuld. Sie ham das Tier nicht gut erzogen. Und dafür muss er wech. Und Sie kriegen noch ein halbes Jahr Drohbriefe aus der Nachbarschaft und die Fenster eingeschmissen, weil es in der Zeitung war.

Der Hund, das ist ein Darm mit vorne ein Gebiss dran. Man kann auch nirgendwo mehr wohnen. Überall werden die Hundehalter verjagt und Recht haben die Leut. Und dann gehen die obdachlosen Hundehalter immer auf der Straße lang, von vorne nach hinten und wieder zurück. Sie haben rote Augen von dem fehlenden Schlaf, und die Hunde sind nervös, killen kleine Kinder und scheißen die Vorgärten zu. Und jeder versteht, warum sie nirgendwo mehr hin können. Im Hotel will se auch keiner, weil se mit ihren riesigen Pfoten braune Flecken an die Seitentapete machen, und weil sie alles ablecken. Das ist unästhetisch und ich kann so was auch nicht ab.

Würd ein Freund nie tun, jedenfalls keiner, der noch alle Stiefmütterchen im Balkonkasten hat. Nennen Sie mir einen Hund, der von selbst seine Steuern zahlt! Meine Freunde tun das alle. Von Freunden hat auch der Staat was, nur Hunde, die bescheißen sogar beim Fiskus. Und dann haben sie auch noch Flöhe. Aber das ist so eklig, da denk ich nicht mal dran. Und der Sabber von den Lefzen. Aber das ist noch ekliger, und deswegen: Schwamm drüber. Heute kommt der Theo. Ich mach jetzt einen Obstsalat. Wenn der Theo den frisst, fress ich bei ihm zweimal. Einmal Spaghetti, einmal Pommes. Damit es sich auch gelohnt hat. Wenn er das nicht will, kriegt er beim nächsten Mal Hundegefress. Damit er sich das merkt.

21. Juni 2002, Instant Nirvana

*

Nicht alleine sein. Erste Folge. – Wir sind ein altes Geschlecht, viele Irrtümer alt. Wir waren muffige junge Männer, jederzeit bereit, noch muffiger zu werden. Wir haben den Selbstmord Kurt Cobains für eine schlechte Wiederholung gehalten. Wir konnten uns alles vorstellen, wahrscheinlich war das unser Problem. Wir haben uns viel seltener über etwas gewundert als über etwas empört. Wir haben oft darüber diskutiert, wie man diskutieren müsse.

26. April 2002, Sofa

*

Chelovek’s Kinoapparatom. – »Komm mit«, sagt sie in ihrer fremden Sprache, »wir gehen Sightseeing.« Durch die Stadt, vorbei an leeren Häusern und über schlecht verlegte Straßenbahngeleise und Pflanzen, die sich durch den Asphalt ans Augustlicht gebohrt hatten. Schwer, ihr zu folgen, denn der Alkohol. Hier und da ein Auto, eine Katze, zwei drei. Schau an. Sie trägt gar keine Schuhe. Bleibt schließlich stehen und tanzt mal um ihre eigene Achse und ich sehe plötzlich Löwen, Raubvögel, Statuen nackter Menschen aus dem Moos wachsen. »Das ist die Straße mit den Häusern«, sagt sie, »die der Vater von Sergej Eisenstein gebaut hat.«

4. April 2003, Hirn & Verbrannt

*

Erinnerung. – Sie war immer verwundert über meinen leisen Schlaf. Einmal hielt sie mitten in der Nacht ihre Hand in meinen Atem, um zu prüfen ob ich noch lebe.

2. November 2002, Instant Nirvana

*

Autobiografie. – Das Leben gibt sich ja selten Mühe, in Sätzen beschrieben werden zu können, die man nicht sofort wieder bedenkenlos streichen müsste.

26. August 2002, Sofa

*

Kryptisch. – Das muss eh alles viel kryptischer werden. Viel hermetischer. Immer dieser Meinungsquatsch. Wir sind doch nicht beim Kabarett.

4. April 2003, Eier Erbsen Schleim & Zeug

*

Weg. – Ich schreibe mich jetzt selbst auf, bis ich weg bin.

13. Oktober 2003, Hirn & Verbrannt

***

Die Texte dokumentieren eine Veranstaltung über »Literaten und ihre Weblogs«, die am 17. Januar im Treffpunkt Rotebühlplatz, Stuttgart, stattfand.

Eier Erbsen Schleim & Zeug (Bov Bjerg): http://bov.antville.org

Instant Nirvana (Marcus Hammerschmitt): http://concord.antville.org

Mamassiv (Bastian Albers): http://mama.antville.org

Hirn & Verbrannt (Günter Hack):

http://hirnverbr.antville.org

Sofa (Peter Praschl u.a.): http://arrog.antville.org