Kein Fußbreit den Armen

Nicht das Elend der Flüchtlinge an der nordafrikanischen Küste gilt in Spanien als Hauptproblem, sondern die mangelnde Absicherung der Grenzen. von thorsten mense, madrid

Mögen die von den Medien begleiteten Massenanstürme auf die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla die Regierung in Madrid auch in Bedrängnis bringen und allen die Konsequenzen der europäischen Asylpolitik vor Augen führen, das Flüchtlingsdrama an den Außengrenzen Europas ist kein neues Phänomen. Seit Jahren schon sterben Tag für Tag Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen.

Können ertrunkene Flüchtlinge noch als angebliche Unglücksfälle abgetan werden, muss sich die spanische Regierung nun den Bildern erschossener und totgeprügelter Menschen stellen. Dennoch erkennen Spanien und ebenso der Rest der Europäischen Union das Hauptproblem nicht im Elend der Flüchtlinge, sondern in der unzureichenden Sicherung der EU-Außengrenze. Entsprechend hören sich die Lösungsvorschläge an: Von einem Ausbau der Grenzanlagen ist die Rede oder davon, Soldaten zu entsenden. Zudem wird von afrikanischen Staaten, insbesondere von Marokko, gefordert, die Flüchtlingsströme zu stoppen.

In der vorigen Woche gab der spanische Außenminister Miguel Angel Moratinos bekannt, dass ein dritter Grenzzaun gebaut werden soll, der für mehr »Effizienz und Sicherheit« sorgen werde. Als weitere Maßnahme wurde das Asylrecht in Ceuta und Melilla faktisch außer Kraft gesetzt, als am Freitag die ersten 70 Flüchtlinge ohne eine Prüfung ihrer Fluchtgründe nach Marokko abgeschoben wurden. Die Kritik von Menschenrechtsorganisationen, die von einer eklatanten Missachtung der europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Konvention zum Schutz von Flüchtlingen sprechen, verhallt ungehört.

Bei den sofortigen Abschiebungen beruft sich die stellvertretende spanische Ministerpräsidentin, María Teresa Fernández de la Vega, auf ein Abkommen mit Marokko, das vor 13 Jahren unterzeichnet, bislang jedoch nicht angewandt wurde. Demnach ist Marokko dazu verpflichtet, alle Flüchtlinge, die illegal über das nordafrikanische Land nach Spanien einreisen, wieder aufzunehmen, und zwar unabhängig davon, aus welchen Staaten die Leute stammen. Wie schon Deutschland mit der Änderung des Asylrechts im Jahr 1993 entledigt sich Spanien mit dieser Drittstaatenregelung jeglicher Verantwortung für die Flüchtlinge.

Da in Ceuta und Melilla keine Aufnahmeeinrichtungen existieren, werden die Flüchtlinge zuerst nach Málaga auf das spanische Festland ausgeflogen und von dort per Schiff in die marokkanische Hafenstadt Tanger gebracht. Was dann mit ihnen geschieht, interessiert Spanien nicht, die Frage ist in dem Abkommen auch nicht geklärt. Auf die Fragen, ob die sofortigen Abschiebungen die Einreisewelle stoppen würden oder ob die Flüchtlinge bis zum nächsten Einreiseversuch in Marokko blieben, antwortet der Bürgermeister von Melilla, Juan José Imbroda: »Das Wichtige ist, dass sie nicht in Spanien bleiben.«

Dabei sind Berichte von Flüchtlingen über Misshandlungen durch marokkanische Sicherheitskräfte an der Tagesordnung. »Wir haben Berichte von unseren Partnerorganisationen in Marokko sowie von den Einwanderern selbst über schwere Misshandlungen durch die marokkanische Polizei«, sagt José Miguel Morales, der Vorsitzende der Organisation »Andalucia acoge«. Er habe jedoch nicht das Gefühl, dass diese Hinweise von den spanischen Behörden ernst genommen würden.

Erst in der vorigen Woche erschossen marokkanische Grenzbeamte sechs Flüchtlinge. Angeblich sollen sie in Notwehr gehandelt haben, als sie einen vermeintlichen Angriff der Flüchtlinge auf einen Beobachtungsposten abwehren wollten. Die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« berichtete von mehr als 500 Migranten, darunter Frauen und Kinder, die sie in der marokkanischen Wüste orientierungslos vorfand. Viele hätten Verletzungen durch Gummigeschosse und Knüppel aufgewiesen. Dem Bericht der Organisation zufolge wurden die Flüchtlinge, nachdem sie erfolglos versucht hatten, nach Melilla zu kommen, von der marokkanischen Polizei festgenommen und ohne Wasser und Lebensmittel im Grenzgebiet zu Algerien in der Sahara ausgesetzt.

Der spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero will bald Gespräche über Rückführungsabkommen mit Ghana und Mali beginnen. Dennoch ist er einer der wenigen spanischen Politiker, die sich öffentlich über die Ursachen des Flüchtlingsdramas Gedanken machen. »Wir sollten mit Eile daran arbeiten, die Kluft im Reichtum zwischen Spanien und Marokko und den Ländern südlich von Marokko zu verringern«, sagte er in der vergangenen Woche. Spanien sei fünfmal so reich wie Marokko, dies sei weltweit einer der größten Wohlstandsunterschiede zwischen Nachbarländern. Daher forderte er von der EU eine verstärkte ökonomische Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas, um die Armut zu bekämpfen.

Die konservativen Bürgermeister von Ceuta und Melilla, Juan Jesús Vivas und Juan José Imbroda, warfen dem Ministerpräsidenten unterdessen vor, »absolut und total inkompetent« zu handeln. Außenminister Moratinos sagte vergangene Woche vor der parlamentarischen Versammlung des Europarates in Strasbourg, die EU sei verpflichtet, Flüchtlingen in Not zu helfen. Zugleich müsse »sie sich aber vor Menschen schützen, die ihre Werte und Freiheiten zerstören wollen«. Um die restriktiven Maßnahmen bei der Abwehr der Flüchtlinge zu legitimieren, wird in bekannter Weise Angst erzeugt. Eine strengere EU-Politik gegen illegale Einwanderung sei nötig, »wenn wir nicht wollen, dass sie uns wie eine verheerende Welle überrollt«. Auch in spanischen Medien findet man kaum noch Berichte, in denen nicht von der »Flut«, dem »Ansturm der Armen« oder sogar dem »schwarzen Marsch« geredet wird.

Kein Wunder, dass die Rechte schon eine »Bedrohung der spanischen Nation« ausgemacht hat. Vor allem die Konservativen bezweifeln die Bereitschaft des Nachbarlandes zu einer Lösung und vermuten, dass Marokko die Krise dazu nutze, die verbliebenen kolonialen Städte Spaniens zurückzuerhalten. Das dachte offenbar auch der Bürgermeister von Melilla, als er die sozialistische Regierung Zapateros beschuldigte, die Staatsgrenzen nicht ausreichend zu schützen. Eine Initiative der konservativen Volkspartei fordert von der Regierung eine Erklärung, dass Ceuta und Melilla »zur spanischen Nation gehören«. Um diesen Anspruch zu bekräftigen, wollen sie dort das nächste Treffen des Ministerrates abhalten.

Angesichts dieser Ereignisse mutet folgende Meldung merkwürdig an: Vergangene Woche enthüllte der spanische Außenminister Moratinos gemeinsam mit dem Generalsekretär des Europarates, Terry Davis, eine Skulptur des Künstlers Mariano González, die den »Verteidigern der Menschenrechte« gewidmet ist. Wer mochte damit wohl gemeint sein?