Nichts dazugelernt

Die Bildungskrise ist Ausdruck der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise, die wiederum durch das Bildungssystem verschärft wird. von anton landgraf

Der Weg nach unten währt lange, und ein Ende ist nicht in Sicht. Während in den vergangenen Wochen auf allen Kanälen aufgeregt über die Zustände an der Rütli-Hauptschule im Berliner Bezirk Neukölln debattiert wurde, zeichnet sich der Niedergang des dreigliedrigen Schulsystems bereits seit geraumer Zeit ab. Dabei galten die Haupt- und die Realschule über Jahrzehnte als die zentralen Bildungsinstitutionen für die Massen. Sie boten den Kindern aus den Arbeiterfamilien eine gewisse Aussicht auf soziale Integration und Aufstieg, während an den Gymnasien sich die so genannte Elite reproduzierte.

Das System korrespondierte lange mit der wirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere wegen des hohen Bedarfs an Industriearbeitern. Noch in den siebziger Jahren war jeder zweite Beschäftigte in diesem Sektor tätig. Und dafür war das selektive Schulkonzept wie geschaffen. Selbst der Unterricht entsprach dem fordistischen Industriesystem. Die Einteilung in den 45-Minuten-Takt, Frontalunterricht und eine sozial weitgehend homogene Schülerschaft produzierten die Nachwuchskräfte wie am Fließband.

Auf den zunehmenden Bedarf an qualifizierten Facharbeitern reagierte die damalige sozialdemokratische Regierung mit der Bildungsreform und vereinfachte den Zugang zu Hochschulen und Universitäten. Unqualifizierte Jobs wurden zunehmend von Migranten übernommen.

Doch mit der Krise des Fordismus veränderte sich auch die Lage auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt dramatisch. Nach und nach verschwanden die Jobs für wenig qualifizierte Arbeitskräfte, während zugleich der Bedarf an Facharbeitern deutlich schrumpfte – in den vergangenen zwei Jahrzehnten halbierte sich die Stellenzahl in der Industrie.

Einige Länder reagierten auf diese Entwicklung, indem sie ihr Bildungssystem neu organisierten. Anstelle einer Schule, in der Wissen nach hierarchischen Prinzipen vermittelt wird, trat ein integratives Konzept. »Nach unserer Einschätzung beeinträchtigt ein mehrgliedriges Schulsystem mit früher Auslese die volkswirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit«, erklärt etwa der ehemalige finnische Ministerpräsident Paavo Lipponen. »Warum? Weil dieses System nicht ein gleichmäßig hohes Bildungsniveau der gesamten Gesellschaft ermöglicht.«

Denn neue Jobs entstehen, wenn überhaupt, im Dienstleistungsbereich, der jedoch andere Qualifikationen erfordert. Während das fordistische Industriesystem klare Hierarchien und die disziplinierte Anwendung von einmal erlerntem Wissen bevorzugt, verlangen die neuen Branchen das Gegenteil: Flexibilität und Selbstmanagement.

Eigenschaften, die sich in deregulierten Arbeitsverhältnissen bemerkbar machten und vor allem in Staaten wie Deutschland und Frankreich, die an ihrem starren Prinzip der früheren Auslese im Bildungssystem festhalten, zu einem »Fahrstuhleffekt« auf dem Arbeitsmarkt führten. Während sich der Abstand zwischen den sozialen Schichten wenig verändert, verschlechtern sich die Bedingungen für alle Beteiligten.

So sind Akademiker mit einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von sieben Prozent nach wie vor privilegiert. Doch auch wenn sie schneller Jobs bekommen als andere, sind sie nun oft mit »proletarischen Verhältnissen« konfrontiert: Verträge auf Zeit, wenn es überhaupt welche gibt, Berufskarrieren, die unkalkulierbaren Schwankungen ausgesetzt sind und längere Phasen der Arbeitslosigkeit oder der sozialen Deklassierung mit einschließen.

Noch dramatischer fällt der Abstieg bei den unteren Schichten aus. Während für die Hauptschüler früher noch die gängigen Lehrberufe offen standen oder zumindest unqualifizierte Jobs in der Industrie und der Verwaltung zur Verfügung standen, ist die Lage für sie mittlerweile meist hoffnungslos.

An der Rütli-Schule fand im vergangenen Jahr kein einziger Abgänger eine Lehrstelle. Bei den Unqualifizierten beträgt die Arbeitslosigkeit offiziell rund 40 Prozent, vermutlich ist der Anteil sogar noch deutlich höher. Und für jede weitere Generation verschlechtert sich die Lage. Zumal in Deutschland wie sonst nirgends in Europa die Aufstiegs­chancen an den sozialen Status der Eltern gekoppelt sind.

So entstehen nach und nach ganze Gebiete der sozialen Deprivation. Der Entkoppelung vom Arbeitsmarkt folgt die Territorialisierung der Städte. Ganze Viertel werden zu »Problemzonen« erklärt, über Hauptschulen wird der Ausnahmezustand verhängt. Hier sind alle versammelt, die keine Chance mehr erhalten. Wer kann, zieht weg. Übrig bleiben die Verlierer. Lehrer und Sozialarbeiter gelten als Angehörige einer anderen Welt, mit denen eine Verständigung im wahrsten Sinn des Wortes kaum mehr möglich ist. Und auch die linksliberale Mittelschicht verlässt spätestens dann die Gegend, wenn es um die Einschulung der eigenen Kinder geht.

»Die Humankapitallogik kommt platt und grausam daher«, kommentierte die FAZ vergangene Woche zynisch die Diskussion um die Rütli-Schule. »Aber noch grausamer geht es in den Sonderzonen zu, in denen sie außer Kraft gesetzt wurde.« Wo die etablierten bürgerlichen Verkehrsformen für die Mehrheit keine Aussicht auf ein halbwegs erträgliches Dasein ermöglichen, nehmen soziale Strukturen ihren Platz ein, die an die Formen ursprünglicher Akkumulation im Kapitalismus erinnern.

Tatsächlich führt die Entwicklung zu einer gesellschaftlichen Regression. Solidarität und Schutz versprechen nur noch die unmittelbaren Beziehungen in der traditionellen Familie oder in der Bande. Entsprechend haben vor allem Religion und völkischer Gemeinschaftssinn wieder Konjunktur. Unmittelbare Gewalt und Skrupellosigkeit treten an die Stelle der institutionalisierten Formen der Machtaufteilung, und die einzigen aussichtsreichen Branchen sind das Drogengeschäft, das Glücksspiel oder der Frauenhandel.

Mittendrin im sozialen Kriseneinsatz befinden sich die »Resteschulen«. In den meisten Einrichtungen geht es schon lange nicht mehr ums Lernen, sondern um Sozialarbeit. Mit einem völlig veralteten Unterrichtssystem, mit einem Kollegium, in dem, wie in Berlin der Fall, selbst 50jährige Pä­dagogen als Nachwuchskräfte gelten. Die Bildungspolitik verschärft diese Entwicklung noch, da sie nach wie vor auf Selektion und Auslese setzt. So werden die schlechten Ergebnisse der Pisa-Studie nicht auf die mangelnde Fähigkeit des deutschen Schulsystems zurückgeführt, auf die veränderte soziale Realität zu reagieren. Stattdessen soll die Auslese wie nun in Bayern noch rigider werden.

»Die Hauptschule wird nur von marginalisierten Gruppen gewählt – ohne jede Perspektive – und von abgewiesenen Schülern anderer Schulzweige«, schrieb kürzlich die ehemalige Leiterin der Rütli-Hauptschule in einem Leserbrief im Tagesspiegel. »Sperren Sie sozial Deklassierte in ein Wohnhaus, und Sie werden sehen, was passiert. Hier leistet sich eine Gesellschaft noch immer ein Schulsystem aus dem Kaiserreich und scheint einer anderen Einsicht nicht zugänglich.« So kann man es wohl sagen.