In Holzschuhen

Projekt Leben von deniz yücel

An erster Stelle steht unangefochten die »Bewegung«. Mit einigem Abstand folgen auf der Liste der linken Lieblingswörter »Kritik« und »Praxis«, die, schon einzeln geschätzt, in der Kombination, als »kritische Praxis« oder »praktische Kritik«, ihre größte Wirkung entfalten. Dahinter, vor der »Vernetzung«, den »Strukturen« und der »Emanzipation«, steht es: das »Projekt«. Die meisten Linken würde der Satz »Das Projekt will Theorie und Praxis strukturieren, um emanzipatorische Bewegungen zu vernetzen«, nicht darüber nachdenken lassen, ob es sachdienlich sein könnte, Leute notfalls gegen ihren Willen zu Sprachkursen zu verpflichten. Stattdessen würden sie bekunden, die Sache klinge »total interessant«, wenn nicht »absolut spannend«, und vielleicht würden sie vorschlagen, das genannte »Projekt« mit dem eigenen zu »vernetzen«.

Denn ein Linker ohne mindestens ein »Projekt« ist nicht vorstellbar. Der Idealfall sind Leute, die in einem »Wohn-« oder »Hausprojekt« leben, in einem »Projekt« arbeiten, sich nach Feierabend in einem »Projekt« für dit oder gegen dat engagieren und anschließend in einem »Kneipenprojekt« über neue »Projekte« beraten, die mit der Unerbittlichkeit von Fahrpreiserhöhungen realisiert (gerne auch: »umgesetzt«) werden.

Doch das »Projekt« ist flatterhaft wie eine Figur von Kundera und allgegenwärtig wie die Birkenpolle im Mai. Wo ist der Linke, der, zermürbt von den nimmer endenden Debatten und der maßlosen Schlamperei, sein »Wohnprojekt« verlässt und mit seiner Freundin, die er zärtlich »Zweierbeziehung« nennt, in eine gemeinsame Wohnung zieht und dies mit den Worten ankündigt: »Wir werden wie eine ordentliche Familie leben«? Lieber murmelt er etwas vom »Projekt Zu-Zweit-Wohnen«. Nichts, was zu gewöhnlich wäre, um nicht »Projekt« geheißen zu werden: das Rauchen aufgeben, der Freundin mehr Zeit widmen, den Keller aufräumen, mehr Geld verdienen, die Eltern öfter besuchen, Sport treiben.

Keiner unter denen, die, wie Jules Vallès über die »Abtrünnigen« schreibt, beim »Auszug Siebenmeilenstiefel trugen und die man auf halber Höhe in Holzschuhen wiederfindet«, die nicht mindestens ein »Projekt am Laufen« hätten. »Projekte« zu haben, ist die säkularisierte Form des Glaubens ans Paradies; es ist die simulierte Hoffnung auf Glück. Darum nimmt ein jeder, der in einem »Projekt« arbeitet, alle Plackerei für einen kargen Lohn ohne Wehklagen auf sich, es ist nur ein »Projekt«, es ist nur auf Zeit. Das unterscheidet den »Projektarbeiter« vom früheren Tagelöhner, der wusste, dass er nie etwas anderes machen würde, als Tag für Tag aufs neue seine Haut zu Markte zu tragen. Zudem darf der »Projektarbeiter« glauben, an etwas Kühnem, Einzigartigem, Experimentellem und Leidenschaftlichem teilzuhaben. In der post­heroischen Welt ist die Arbeit in einem »Projekt« das letzte, dafür jedermann mögliche Abenteuer: jede Internetklitsche eine Erstexpedition zum Südpol, jede Aushilfsstelle an der Universität eine Erstbesteigung des Mount Everest. Haben Roald Amundsen und Edmund Hillary gefragt, wie hoch das Entgelt und wie erträglich die Umstände seien? Eben.

Deshalb eignet sich das »Projekt« hervorragend dafür, Menschen mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium zu Arbeiten unter Bedingungen zu nötigen, unter denen kein polnischer Gastarbeiter einen Finger krümmen würde. Keine Anstellung, die nicht im »Rahmen eines Projekts« wäre. Aber wer, wie der Autor dieser Zeilen, in einem – na klar – »Zeitungsprojekt« arbeitet, in dem man ganz selbstbestimmt für lausiges Geld schuftet und in dem der Tariflohn so geachtet wird wie die Lärmschutzverordnung bei einem Konzert von Motörhead, sollte nicht überheblich sein. Die Abschaffung aller »Projekte«, das wäre ein Projekt, für das es sich zu kämpfen lohnte.