Besetzungen und Hungerstreiks von Sans Papiers in Belgien

Hungerstreik auf dem Baukran

Seit einem halben Jahr schiebt Belgiens zerstrittene Regierung eine Regularisierung illegaler Flüchtlinge vor sich her. Nach erfolglosen Kampagnen reagierten Sans Papiers im Sommer vermehrt mit Hungerstreiks. Für den Herbst haben sie die Ausweitung des Protests angekündigt.

Daniel Alliët ist ein viel beschäftigter Mann in diesen Wochen. »Acht Anfragen habe ich schon bekommen«, sagt der Pfarrer der Église du Béguinage im Zentrum Brüssels, »um die Kirche demnächst besetzen zu lassen.« Die Interessenten gehören allesamt zur Bewegung der Sans Papiers, die seit Monaten mit zahlreichen Besetzungen in der Hauptstadt von sich reden macht. Ob Gebäude, Gerüste oder Baukräne: Als die belgischen Politiker sich in die Sommerpause verabschiedeten, ohne wie zuvor angekündigt die Richtlinien einer Legalisierung von Flüchtlingen ohne Papiere zu verabschieden, starteten die Betroffenen eine medienwirksame Kampagne. Zentral waren dabei mehrere Hungerstreiks, die seit dem Frühjahr in Brüssel stattfanden und zum Teil noch andauern. Da Anfang September ein weiterer Aufruf an die Regierung unbeantwortet blieb, wollen die Sans Papiers ihre Proteste nun erneut ausweiten. Ein Sprecher kündigte »eine Welle von Hungerstreiks« an, während Pfar­rer Alliët präzisiert: »Wir müssen den Mut haben, eine landesweite Aktion aufzuziehen, an mindes­tens zehn Plätzen gleichzeitig. Nicht nur Besetzungen von Kirchen, sondern auch von Gewerkschaftsgebäuden oder Kulturzentren.«

Belgiens Sans Papiers haben inzwischen zu drastischen Mitteln gegriffen, sie wollen sichtbar werden. Seit die Regierung aus Christdemokraten, Liberalen und frankophonen Sozialisten im März antrat, steht eine Bleiberecht-Regelung zur Debatte. Der Koalitionsvertrag sieht eine Legalisierung auf Basis der Länge des Asylverfahrens, einer Arbeit oder »gelungener Integration« vor. Die Interpretation dieser Kriterien ist jedoch heftig umstritten. Eine Lösung sollte zunächst im Mai bekannt gegeben werden, später dann vor der parlamentarischen Sommerpause. Doch die Termine wurden immer wieder verschoben. Zu groß waren die Differenzen zwischen den Koalitionspartnern in der Regierung: Die Liberalen sehen Zuwanderung unter der Voraussetzung ökonomischen Nutzens, wie die zuständige Ministerin für Asyl und Migration, Annemie Turtelboom, beständig betont. Elio di Rupo, Chef der Parti Socialiste, verhöhnte sie dafür als »harte Tante von Flandern«. Sozialisten und der frankophone Zweig der Christdemokraten grenzen sich zwar deutlich von einem allgemeinen Bleiberecht ab, wollen jedoch humanitäre Aspekte ebenso deutlicher berücksichtigen wie die im Koalitionsvertrag angeführte »soziale Verankerung« in der belgischen Gesellschaft. Die christdemokratische Arbeitsministerin Joëlle Milquet schlug unmittelbar nach der Sommerpause eine spezielle Arbeits­erlaubnis für Illegalisierte vor, die seit eineinhalb Jahren in Belgien leben und ein Jobangebot haben. Von seiten Turtelbooms trug ihr dies den Beinamen »Ministerin für Sans Papiers« ein.
Selbst die Unternehmervereinigung Unizo appellierte zuletzt an die Regierung, Asylbewerber für die Dauer ihres Verfahrens mit einer Arbeitsgenehmigung auszustatten und »diese verkannte Arbeitsreserve anzuzapfen«. Doch haben die vergangenen Monate die Fronten eher weiter ver­härtet. »Die Regierung bewegt sich nicht«, klagt Paco Puerta, Mitglied des Aktionskomitee CAS, das die Sans Papiers unterstützt. In der Ausweichtaktik sieht er ein Zeichen von Schwäche einer Ko­alition, die sich durch den latenten Kon­flikt zwischen Wallonen und Flamen von einer Krise zur nächsten hangelt und jede weitere Konfrontation zu vermeiden sucht. Diese Strategie setzte ei­ne Dynamik in Gang, in der jedes weitere Aufschieben eine Radikalisierung der Aktionsformen nach sich zog – bis im Sommer Dutzende vom Hungerstreik geschwächte Sans Papiers auf Baukräne kletterten. Die Regierung wiederum will sich nicht den Anschein geben, »erpressbar« zu sein. Sowohl der Leiter der Ausländerbehörde als auch ein Sprecher des Migrationsministeriums lehnten es daher ab, mit den Kranbesetzern zu verhandeln.
Dass 161 hungerstreikende Asylbewerber, die 56 Tage lang die Église du Béguinage besetzt hatten, Anfang Juli eine befristete Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung erhielten, erschwert daher die Verhandlungssituation ihrer Nachahmer – gerade weil sie auf einen Präzedenzfall hoffen. So warten 75 Hungerstreikende in der Université Libre de Bruxelles ebenso wie elf Aktivisten im Lateinamerika-Haus im Viertel Ixelles seit über zwei Monaten noch immer auf eine politische Reaktion. Auch unter den rund 100 irakischen und afghanischen Flüchtlingen, die seit Ende August ein leer stehendes Gebäude im Norden Brüssels besetzen, gibt es Hungerstreikende.

Anfang September wurden mehrere Aktivisten mit Herzbeschwerden in Krankenhäuser aufgenommen, eine Frau hatte zudem Blut erbrochen. Begleitende Ärzte zeigten sich sehr besorgt. Auch die weiterhin Streikenden befänden sich in kritischen Zuständen: Kreislaufprobleme, dras­tischer Gewichtsverlust, Bluthochdruck und mentale Beschwerden, zudem könnten die meisten nicht mehr aufrecht sitzen. Ein Sprecher der Aktivisten betonte, diese wollten trotz bereits erlittener bleibender Schäden »für ihre Würde« weiter streiken. Riet Dhont vom Aktionsbündnis Coordinatie Martelarenplein fasst die dramatische Situation wie folgt zusammen: »Jeden Moment kann es unter den Hungerstreikenden einen Toten geben. Und den werden Turtelboom und Premier Yves Leterme auf dem Gewissen haben.«
Die Zuspitzung der vergangenen Monate verstellt den Blick darauf, dass das Thema Legalisierung die belgische Öffentlichkeit schon seit langem beschäftigt. Bevor die Betroffenen mit Besetzungen begannen, hätten sie vier Jahre erfolglos versucht, mit friedlichen Aktionen auf sich aufmerksam zu machen, so eine Sprecherin der Sans Papiers. Rund 100 000 Menschen warten in Belgien auf das Ende ihrer Illegalität.
»Je nach Auslegung der Kriterien kommen 30 000 bis 50 000 von ihnen dafür in Frage«, sagt Daniel Alliët. Seine Kirche sieht der Pfarrer durch­aus als Symbol des Kampfs für ein Bleiberecht, denn bereits 1999 wurde sie zum selben Zweck erstmals besetzt. Im Zuge der damals beschlossenen Regularisierung erhielten knapp 45 000 Menschen eine Aufenthaltsgenehmigung. Dass diese Maßnahmen der tatsächlichen Anzahl illegaler Flüchtlinge nicht annähernd gerecht wurden, kritisierten Sans-Papiers-Initiativen bereits damals. Spätestens der Hungerstreik afghanischer Asylbewerber in einer weiteren Brüsseler Kirche brachte das Thema 2003 zurück auf die Agenda, wo es seither durch mehrere folgende Hungerstreiks verankert wurde. Da mit der letzten Regularisierung beschlossen wurde, die zuletzt eingereichten Anträge zuerst zu behandeln, stau­ten sich am anderen Ende der Schlange die ungelösten Altfälle. Für Pfarrer Alliët steht es deshalb außer Frage, dass eine weitere Bleiberechtskampagne dringend nötig ist: »Das Maß ist wieder voll. Das ist ganz normal.«