Atomkraft als Wahlkampfthema

Laufzeit ist Zeit, die nicht abläuft

Atomkraft ist wieder ein Wahlkampfthema. Doch was geschieht wirklich nach der Bundestagswahl? Als bekannt wurde, dass im Atommülllager Asse drei Mal mehr Plutonium lagert als bisher angenommen, hat sich die Debatte verschärft. Lobby-Verbände spielen dabei eine wichtige Rolle – auf beiden Seiten.

»Ab dem 27. September, 18 Uhr, sind wir bereit, unsere Vorschläge auf den Tisch zu legen und mit den Entscheidungsträgern darüber zu verhandeln«, erklärte Walter Hohlefelder fast schon geheimnisvoll auf der Jahrestagung Kerntechnik im Mai. Über die Bedeutung der Bundestagswahl im September für die Zukunft der deutschen Atomenergie, und damit auch für den gut bezahlten eigenen Posten, ließ der Präsident des Deutschen Atomforums – der »Propagandazentrale der Atomkonzerne« (Bundesumwelt­minister Sigmar Gabriel) – keine Zweifel: Die Ergebnisse würden »strategische Weichen« stellen. Bis es soweit ist, halten sich die Vertreter der Atom­industrie und ihre Lobby-Verbände vornehm zurück.

Die Taktik der Atomenergie-Branche bestand in den vergangenen Monaten vor allem darin, (Lauf-)Zeit zu gewinnen. Vor dem Bundesverwaltungsgericht war sie damit im März gescheitert. Die Energiekonzerne Vattenfall und RWE wollten ähnlich dem Emissionshandel die übrig gebliebene Reststrommenge des bereits 1988 abgeschalteten Reaktors Mühlheim auf die beiden ältesten Atomkraftwerke Biblis A und Brunsbüttel übertragen. Das Gericht stellte sich hinter das Umweltministerium und lehnte den Antrag ab, da im Vertrag über den so genannten Atomausstieg dies ausdrücklich ausgeschlossen wurde. Die Vereinbarung zwischen der Regierung und den AKW-Betreibern lässt jedoch viele Lücken, die von letzteren eifrig genutzt werden. So wurde die Restlaufzeit der 17 noch aktiven deutschen AKW nicht zeitlich, sondern anhand der Strommenge festgelegt, die in den Kraftwerken noch produziert werden darf. Daher haben selbst die jüngsten kleinen Störfälle etwas Positives für die Betreiber: Durch die vorübergehende Abschaltung wird die Stromerzeugung unterbrochen und das Ende der jeweiligen Reaktoren wieder in die Zukunft verschoben. Experten haben bereits mehrfach auf die auffällig lange Dauer von Routine-Untersuchungen oder Reparaturarbeiten aufmerksam gemacht. Andere Reaktoren werden derzeit nicht mit voller Leistung gefahren.
Auf diese Weise können vier AKW (Biblis A und B, Neckarwestheim I und Brunsbüttel), deren Abschaltung noch für die laufende Legislaturperiode geplant war, bis nach der Bundestagswahl erhalten werden. Die Energiekonzerne geben offensichtlich nicht viel auf die Regeln der parlamentarischen Demokratie und die durch sie getroffenen Entscheidungen. Dies wird auch der Grund sein, warum sie sich mit eventuellen Verhandlungsangeboten bis nach der Wahl bedeckt halten. Vielleicht sind bei einem günstigeren Kräfteverhältnis, einer Regierungskoalition von CDU und FDP, gar keine weiteren Zugeständnisse für eine Laufzeitverlängerung nötig. Da Umfragen zufolge eine schwarz-gelbe Koalition möglich ist, raten Börsenexperten schon jetzt zum Kauf von Aktien der Energiekonzerne.
Aber auch für den Fall, dass die Wahlen zum Bundestag anders ausgehen, wurde bereits Vorarbeit geleistet. Im Mai hatte das Deutsche Atom­forum – das stets betont, man müsse in der Diskussion die »ideologischen Scheuklappen« ablegen – eine mögliche »Allianz« von Atomkraft und erneuerbaren Energien ins Gespräch gebracht. Die würde voraussichtlich darin bestehen, einen Teil der Milliardengewinne aus der Laufzeitverlängerung in die Förderung von Öko-Strom zu investieren, wie es aus CDU-Kreisen vorgeschlagen wurde. Vertreter der erneuerbaren Energien lehnten dieses Angebot vorerst ab.

Der Einfluss der so genannten Atomlobby ist nicht zu unterschätzen. Wo viel Geld – nicht nur für Privatpersonen, sondern auch für den Standort Deutschland – im Spiel ist, kann auch viel Druck ausgeübt werden. Bei geschätzten Gewinnen von 300 Millionen Euro pro Kraftwerk und Jahr kann man sich ausmalen, wie groß sowohl das Interesse als auch die Möglichkeiten sind. Ob und welchen Einfluss zum Beispiel die mit mehreren hunderttausend Euro jährlich vergüteten Aufsichtsratsposten von Politikern und Gewerkschaftsfunktionären bei Energiekonzernen auf deren Meinung zur Atomkraft haben, darüber kann man nur spekulieren. Das Engagement dieser Leute ist zumindest auffällig. Im Oktober 2005 setzten sich Verdi und die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE) in dem Positionspapier »Leitplanken der Energiepolitik« gemeinsam mit den vier größten Energiekonzernen EnBW, Eon, RWE und Vattenfall für »mehr Realismus« ein und forderten, dass »einzelne Energieträger nicht aus ideologischen Gründen aufgegeben werden« dürften. Damit unterstützten zwei der drei größten deutschen Gewerkschaften die Forderung der Atomlobby und konservativer Kreise nach dem »Ausstieg aus dem Ausstieg«. Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske sitzt im Aufsichtsrat von RWE und ist Mitglied der Grünen, der IG-BCE-Vorsitzende Hubertus Schmoldt wurde lange von Eon bezahlt und stellte sich als SPD-Mitglied von Beginn an gegen den Atomausstieg. Beide werden sicher auch ihren Einfluss in ihren Parteien zu nutzen wissen.
Jedenfalls scheint keineswegs gesichert, dass bei weiteren vier Jahren Großer Koalition der Ausstieg nicht doch rückgängig gemacht wird. Mehrere Atom-Dissidenten in der SPD, darunter der Vorsitzende der SPD-Gruppe im Europäischen Parlament, Bernhard Rapkay,, hatten bereits 2006 ein Ende der »Tabus« und »Gleichberechtigung« für die Atomenergie gefordert. Die Atomlobby versucht auf ihre Weise, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Nachweisbar waren Beschäftigte der Atomlobby äußerst aktiv bei der Platzierung von atomenergiefreundlichen Leserbriefen und beim Verfassen bzw. Schönschreiben von Wikipedia-Artikeln. Der BUND Freiburg landete wegen atomkraftkritischer Artikel zeitweilig sogar auf der Spam-Liste von Wikipedia und wurde somit auch von der Suchmaschine Google nicht mehr aufgeführt. Auch um die zukünftige Wähler- und zugleich potenzielle Kundschaft kümmert man sich. Im »Schulpaket« des Informationskreises Kernenergie, der PR-Agentur der AKW-Betreiber, kann man bunte Postkarten bestellen mit so feschen Sprüchen wie »Willst du wirklich mit mir Schluss machen?« und »32 ist doch kein Alter!«, natürlich kostenlos.
Für diese Art »Aufklärung« ist vor allem die Fachgruppe »Nutzen der Kerntechnik« der Kerntechnischen Gesellschaft (KTG) zuständig. Durch Vorträge versucht sie, die Befürworter der Atomenergie im Kampf für die Sache zu schulen. »Argumentation in Gleichnissen gegen unsinnige Aussagen«, lautete zum Beispiel der Titel eines Vortrages auf einer Tagung im vergangenen Jahr. »Damit auch Otto-Normal-Bürger versteht, welche haarsträubenden Zahlenspiele ihm von den Verfechtern der ›Erneuerbaren Energie‹ vorgegaukelt werden«, wie es in der Beschreibung des Vortrages hieß. 2007 konnten sich die Teilnehmer bei Vorträgen über »Wikipedia. Öffentlichkeitsarbeit und Arbeit an Schulen« informieren. Bei näherer Betrachtung wirkt die oft als mächtig und undurchsichtig wahrgenommene Atomlobby dabei jedoch manchmal eher wie ein Amateurverein. Auf einem Dutzend vermeintlich neutraler und privater Internetseiten wie energie-fakten.de und bürger-fuer-technik.de, die nach eigenen Angaben »wissenschaftlich kompetent und unabhängig« Wissen zur Verfügung stellen, damit »sich mehr junge Menschen für Naturwissenschaften und Technik interessieren«, wird Stimmung gegen die »Windkraft-Lügen« und für die Atomenergie gemacht. Die Betreuung dieser Seiten wird offen im Aufgabenbereich der KTG-Fachgruppe »Nutzen der Kerntechnik« aufgeführt, deren stellvertretender Sprecher Ludwig Lindner ist, zugleich Vorsitzender der gemeinnützigen »Bürgerinitiative Bürger für Technik« (BfT). Einem Artikel der Zeit zufolge haben vier Mitglieder der BfT, darunter auch Lindner, vor drei Jahren sogar fast eine Veranstaltung von Greenpeace in Mannheim gesprengt, indem sie die Redner störten, Flugblätter verteilten und Plakate abrissen. Nach ominösen Strippenziehern im Hintergrund klingt das nicht.

Dass die Atomlobby in diesem Fall die gleichen Aktionsformen wie die Anti-Atom-Bewegung anwendet, ist dabei gar nicht so ungewöhnlich. RWE hat sogar angekündigt, einen Tag vor der bundesweiten Großdemonstration der Anti-Atom-Bewegung am Samstag in Berlin eine eigene Pro-Atom-Demonstration durchzuführen. Mit gecharterten Bussen sollen mehrere tausend Auszubildende nach Biblis gebracht werden, um dort unter dem Motto »KERNig in die Zukunft« für die Atomkraft aufzumarschieren. Im Grunde stehen sich in der Diskussion nur zwei Meinungen gegenüber, auch wenn die Atomkraftgegner die ökologischen Argumente auf ihrer Seite haben. Wenn Menschen aus der Anti-Atom-Bewegung hohe Posten in der Politik übernehmen oder eine Partei wie die Grünen gründen, wird jedoch ebenso wenig der Begriff Anti-Atom-Lobby verwendet wie bei der Tatsache, dass zahlreiche Firmen aus dem Bereich der erneuerbaren Energien, ebenso wie der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) und der Bundesverband Windenergie (BWE), Protestaktionen wie die kommende Großdemonstration in Berlin unterstützen.
Die Diskussion über den »Ausstieg aus dem Ausstieg« ist letztlich auch ein Ausdruck von recht banaler Marktkonkurrenz. Es geht um die Stellung der eigenen Branche im Wettbewerb. Es ist eben nicht nur der Vorstand des Energiekonzerns, sondern oft auch der Arbeiter aus Brunsbüttel, der Angst vor der Abschaffung des Wirtschaftszweiges hat, der ihm seinen Lohn sichert. Die Solarenergie-Branche hingegen verzeichnete im ersten Halb­jahr zum Teil riesige Verluste. Während sie im Wettkampf auf die Unterstützung der sozialen Bewegungen hofft, arbeitet die Atomindustrie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln: Geld und Einfluss. Die Anti-Atom-Bewegung beteiligt sich so, wenn auch vielleicht ungewollt oder unbewusst, am kapitalistischen Konkurrenzkampf. Das lässt sich wohl kaum vermeiden, aber ein wenig Kritik an den Verhältnissen, die dieses Dilemma produzieren, könnte man eigentlich erwarten.