Der Krieg um Rio de Janeiro

Kein Samba in der Grünen Hölle

Die Kämpfe zwischen dem Staat und der Drogenmafia sind vorerst vorbei. In Rio de Janeiro halten Polizei und Militär durch massive Präsenz einen repressiven »Frieden« aufrecht – und durchsuchen und verwüsten Wohnungen in den Slums. Ein Spaziergang durch den Complexo do Ale­mão, das größte zusammenhängende Armenviertel Rios.

Tagelang hatten alle Fernsehsender, Radiostationen und Zeitungen über nichts anderes berichtet. Überall ging es nur noch um den tobenden »Krieg von Rio de Janeiro«. Auf Globo, dem größten und alles beherrschenden Fernsehsender Brasiliens, laufen immer noch von morgens bis abends die Reportagen von jungen Reporterinnen in türkis-grünen kugelsicheren Westen mit kreisrundem Globo-Logo auf der Brust, die vom Complexo do Alemão berichten, dem gewalttätigsten und größten Favela-Komplex in Rio. 40 Prozent aller Verbrechen der Stadt sollen dort passieren. O Globo, die zum selben Konzern gehörende größte Tageszeitung Rios, druckt täglich neue Zahlen auf die Titelseite: 2 000 Militärs, 600 Polizisten der Spezialeinheiten, 124 Verhaftungen, 37 Tote, 105 brennende Fahrzeuge, tonnenweise Drogen, eine Bazooka und unzählige andere Waffen. Die Operation: »Ein voller Erfolg« – »Die Bevölkerung applaudiert.«
Die größte kombinierte Polizei- und Militäraktion seit Ende der Militärdiktatur und nur 37 Tote, keine Beschwerden? Das muss ich mir selbst anschauen. Ich fahre hin. Der Complexo do Alemão und die angrenzende Penha mit der ebenfalls umkämpften Vila Cruzeiro liegen im Norden der Stadt, gerade einmal zehn Kilometer entfernt vom legendären Maracanã-Stadion, in dem 2014 das Finale der Fußballweltmeisterschaft ausgetragen werden soll. Auf einer Anhöhe überragt die zierliche Kirche Igreja da Penha die beiden Stadtviertel. Zum ersten Mal, seit sie 1728 erbaut wurde, fahren in diesen Tagen Panzer an ihr vorbei.
Von der Avenida Brasil, wo vor kurzem noch Autos brannten, biege ich ab in Richtung Penha, wo die Kämpfe begannen. Ich suche das zuständige 16. Revier der Militärpolizei, das mir über die aktuelle Lage Auskunft geben soll. Und schon sehe ich die ersten Übertragungswagen von Globo. Zwei von ihnen parken neben einem Caveirão, einem dieser gepanzerten Mannschaftsfahrzeuge der Elitetruppe der Polizei, der BOPE. Kein Mensch weit und breit. Zwei Fernsehkameras stehen unbeobachtet auf der Straße, ein Sonnenschirm mit Globo-Logo schützt sie vor der sengenden Sonne. Hier bin ich richtig, sage ich mir, parke den Wagen und steige aus.
Die Beamten in der Polizeistation haben nichts zu berichten. Hier sei alles ruhig, sagen sie, ich solle doch in den Alemão fahren. Als ich aus der Station herauskomme, steht eine blonde Reporterin mit kugelsicherer Weste vor dem geparkten Panzerwagen. Sie berichtet mit aufgeregter Stimme live vom Geschehen. Doch wie ich bald feststellen kann: Im Alemão ist tatsächlich deutlich mehr los. Amphibienfahrzeuge der Marine fahren vollbesetzt durch die Estrada de Itararé, die Hauptverkehrsstraße des Complexo. Ein Panzer rollt an kleinen Friseurläden und Hot-Dog-Ständen vorbei. Lautsprecherwagen verkünden die »Pazifizierung« der Favela und rufen dazu auf, unter einer bestimmten Telefonnummer Drogenverstecke preiszugeben und Banditen zu denunzieren: »2 253-1 177 – Anonymität garantiert!« Es patrouillieren Soldaten, an den Zugangsstraßen stehen schwerbewaffnete Zivilpolizisten. Ich werde kontrolliert und schließlich durchgewunken.
Direkt am Fuße des Hügels, der zur Favela hinaufführt, steht ein Bus der Stadtverwaltung, eine Sozialarbeiterin drückt mir einen Flyer in die Hand. »Große Sozial-Aktion« steht darauf geschrieben. Im Bus werden – nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder in diesem Viertel – grundlegende städtische Dienstleistungen angeboten: Die Anwohner können hier Personalausweise beantragen, Wahlscheine und »Bolsa Familia«-Kärtchen, mit denen man sich in den Lotterie-Büros seine Sozialhilfe auszahlen lassen kann. Eine lange Schlange bildet sich, hauptsächlich Mütter mit Kindern und Senioren.

Ich gehe den steilen Hügel hinauf. Vorbei an eingerissenen Gebäuden, an Müllbergen und Häuserwänden mit unzähligen Einschusslöchern. Viele der Löcher stammen noch aus vergangenen Bandenkriegen. Jemand hat »CV« darübergeschmiert, das Gangzeichen des nun verjagten Comando Vermelho. Auf manche Haustüren haben die Bewohner handgeschriebene Zettel geklebt: »Liebe Polizei, dieses Haus wurde schon durchsucht.«
Der Kioskbesitzer erklärt, was die Zettel auf den Türen zu bedeuten haben. »Die Polizei kommt jeden Tag vorbei und macht Hausdurchsuchungen – jede Wohnung mindestens zwei, drei Mal!« Ich frage ihn, wie so etwas vonstatten geht. »Alles ganz normal«, sagt er, aber ich solle doch in den Inferno Verde gehen, in die Grüne Hölle, »denen geht’s dreckig. Die haben was zu erzählen. Die haben sogar noch Pferdekarren. Einfach geradeaus!«
Also noch weiter rauf. Ich komme an der Baustelle des Teleférico vorbei, einem Projekt aus dem »Wachstumsbeschleunigungsprogramm« (PAC) der Regierung Lula da Silva, das vorsieht, alle Stadtteile des Complexo per Seilbahn zu verbinden: sechs Stationen, drei Kilometer, 175 Gondeln, für 30 000 Passagiere täglich, von Bom Sucesso bis Fazendinha. Die Bauarbeiten ruhen derzeit, Kinder spielen auf den riesigen Baggern.
Polizisten werden rarer hier oben, nur noch ab und zu rauscht ein Pick-Up mit schwarz gekleideten Polizisten der Spezialeinheit mit dem Totenkopf-Emblem an mir vorbei. Ihre Maschinenpistolen lassen die sonnenbebrillten Männer lässig aus dem Wagen hängen. Nicht der Typ Mensch, den man gerne nach dem Weg fragt.
Ein wohlgenährter junger Mann mit unbekleidetem Oberkörper hockt mit einem Bier in der Hand auf einem gelben Plastikstuhl vor einer Bar. Ihn frage ich: »Wo geht’s hier zur Grünen Hölle?« – »Du stehst mittendrin«, sagt er. Es sieht aus wie überall im Alemão: zweistöckige, unverputzte Häuser, viel Müll, Stromkabel, die sich kreuz und quer über die schlecht betonierten Straßen ziehen. Keine Pferde. »So schlimm sieht die Hölle ja gar nicht aus«, sage ich freundlich lächelnd. Die knappe Antwort: »Geh mal eine Straße weiter. Dann wirst du schon sehen!«

Und tatsächlich. Nur eine Straße weiter ändert sich das Straßenbild erneut. Der unter der Asphaltschicht versteckte rote Urwaldboden liegt hier plötzlich offen. Würde es nicht so nach Urin und verbranntem Plastik riechen, ich könnte mich im brasilianischen Inland befinden. Hinter der nächsten Biegung qualmt es heftig. Ich gehe hin. Auf dem Boden hockt ein 40jähriger, kleingewachsener, hagerer Mann mit braungebrannter Haut über einem halb ausgeschlachteten Kühlschrank. Neben ihm brennt ein Häufchen Abfall. Er flucht: »Erst kommen die Bullen und jetzt ist auch noch der Kühlschrank kaputt!« – »War das die Polizei?« – »Nein, die haben den Fernseher kaputtgemacht, das Sofa aufgeschlitzt. Die haben mich geschlagen, aber der Kühlschrank ist so kaputtgegangen.« – »Hast du das angezeigt?« – »Spinnst du? Bei wem soll ich das denn anzeigen? Bei denselben Leuten, die das mit mir gemacht haben?« Er zeigt mir seine Rippen, eine sei gebrochen, und eine offene Wunde am Arm.
»Mein Name ist Wanderson. Komm mit, ich zeige dir meine Wohnung!« Ich zögere etwas, gehe dann aber mit. Die Haustür ist aufgebrochen. »Die repariere ich erst gar nicht mehr! Das lohnt sich doch gar nicht. Wenn die reinkommen wollen, dann kommen die rein! So oder so.« Das kleine Häuschen besteht aus einem winzigen Wohnzimmer, in dem ein aufgeschlitztes Sofa steht. Ein Raum weiter: die Küche. Der Herd ist aus der Wand gerissen, die Einrichtung liegt auf dem Boden verteilt. Im letzten Raum stehen nur ein Bett und ein Schrank, beziehungsweise das, was davon übrig ist. Die Matratze ist aufgeschnitten, das Bettgestell zerbrochen, die Form des Schranks nur noch zu erahnen.
»Ich würde lügen, wenn ich dir sage, ich nehme keine Drogen. Aber ob Drogenhandel oder kein Drogenhandel, für uns ändert sich gar nichts. Geht ein Bandit, kommt schon der nächste! Für uns Arme ist es doch egal. Bleib du mal hier bis zum Einbruch der Dunkelheit. Ich sag dir, wir leben hier in Angst! Die einzigen, für die sich etwas geändert hat, sind die Banditen. Und in sechs Monaten ist alles wieder so wie vorher. Wir kennen das doch schon.«
Wir treten ins Freie. Es ist schwül. Wanderson zeigt auf den blauen Wassertank auf seinem Dach: »Ich würde dir ja gerne etwas zu trinken anbieten, aber seit einer Woche haben wir hier kein Wasser mehr. In dem Tank da sind nur noch Moskitos.« – »Dann habt ihr hier bald Dengue!« – »Haben wir schon!« In diesem Jahr sind in Brasilien bereits 592 Menschen am Denguefieber gestorben, vor allem in Großstädten.

Bestürzt von Wandersons Schicksal verlasse ich die Grüne Hölle. Kaum habe ich wieder Asphalt unter den Füßen, spricht mich ein anderer Bewohner an. »Willst du sehen, was die Polizei hier macht? Komm mit, komm!« Er nimmt mich bei der Hand. Ich folge dem rüstigen grauhaarigen Herrn, gespannt darauf, was er zu berichten hat. Er führt mich in ein zweistöckiges Wohnhaus an der Hauptstraße. »Die Männer in Schwarz waren eben da!« Auch hier dasselbe Bild. Zerstörte Möbel, aufgeschlitzte Matratzen, zertretene Schränke. Ein Computer liegt in seinen Einzelteilen auf dem Boden, das Spülwasser einer umgeworfenen Waschmaschine fließt langsam über die Fliesen der kleinen Wohnung. »Warum, meinst du, machen die das?« möchte ich von dem Mann wissen. Er antwortet: »Die verdienen ja nichts! Die nehmen, was sie kriegen können.«
In Gedanken versunken trete ich den Heimweg an. »Psiou! Bürger, halten Sie an!« ruft es scharf hinter mir her. Ich drehe mich um. Ein schwarz gekleideter Polizist mit Maschinenpistole kommt auf mich zugelaufen. »Haben ansässige Individuen Kontakt mit Ihnen gesucht?« erkundigt er sich bei mir. Ich antworte »Nein!« und füge schnippisch hinzu: »Gäbe es denn etwas, worüber sie sich beschweren könnten?« – »Nein. Selbstverständlich nicht. Wir leisten hier nur unseren Dienst an der Bevölkerung.« Wir verabschieden uns freundlich, wohlwissend, dass wir einander ins Gesicht gelogen haben. Ich fahre nach Hause.
Unterwegs kaufe ich mir die neueste Ausgabe von O Globo, auf dem Titel: »Militär will nicht länger im Alemão bleiben – Befürchtungen, korrupt zu werden.« Es wird dunkel, ich denke an Wanderson.