Der europäische Widerstand gegen die Krisenpolitik

Europa zurückholen

Der Fall Griechenland hat es gezeigt: Soziale Kämpfe auf nationaler Ebene sind keine effektive Strategie gegen die Krisenpolitik der EU. Nur durch die Entstehung einer europäischen Bewegung gegen die Krise wird es möglich sein, sozialen Widerstand zu artikulieren. Ein Debattenbeitrag.

Dass die Schuldenkrise in Europa einen point of no return erreicht hat, war auch ohne die Warnung Mario Draghis klar. Bereits vor einigen Monaten hatte Jean-Claude Trichet von einer »systemischen Krise« gesprochen, nun setzte uns Draghi, sein Nachfolger im Amt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), am 16. Januar darüber in Kenntnis, dass sich die Situation verschlechtert habe.
Fest steht, dass die kommenden Monate für Europa eine düstere Zeit sein werden, nicht nur für diejenigen, die seit Jahren den Preis für die Krise und für das angebliche Krisenmedikament zahlen müssen, nämlich die Folgen der Politik der Austerität – oder, etwas vorsichtiger formuliert, der »ökonomischen Strenge«. Auch bedeutende Segmente des Kapitals fürchten langsam, sie könnten im gigantischen im Zuge der Krise stattfindenden Reorganisierungsprozess der globalen Machtverhältnisse zu den Verlierern gehören.

Die Europäische Union, wie wir sie in den vergangenen Jahren kannten, ist am Ende. Es ist keine erfreuliche Entwicklung. In den vergangenen Jahren hatten europäische linke und soziale Bewegungen zuweilen gehofft, im europäischen Rahmen, jenseits der starren Strukturen der Nationalstaaten, flexiblere Spielräume zu finden, in denen soziale Kämpfe ausgetragen werden könnten, oder für Kampagnen für Bürgerrechte und zu Führungsstrukturen (governance) in der EU.
Diese Räume existieren nicht mehr. Das ist die erste Lehre, die man in Europa aus der Krise ziehen kann. Die zweite ist, dass jeder Versuch, der Krise auf nationaler Ebene sozialdemokratisch zu begegnen, zum Scheitern verurteilt ist, und nicht nur ineffektiv, sondern auch potentiell gefährlich ist. In den vergangenen zwei Jahren hat sich in einigen europäischen Ländern zwar sozialer Widerstand artikuliert, dieser beschränkte sich jedoch auf die nationale Haushaltspolitik der betroffenen Staaten. Das beste Beispiel dafür ist Griechenland. Dort waren die sozialen Kämpfe radikal und vielfältig – von der Besetzung öffentlicher Plätze über tagelange Generalstreiks bis hin zum versuchten Sturm auf das Parlament und zur Blockade ganzer Städte. Die permanente Mobilisierung hat dort trotzdem wenig bewirkt im Kampf gegen die Sozialpolitik der Regierung.
Aber es geht hier nicht darum, Noten zu verteilen. Die Kämpfe in Griechenland waren notwendig. Ihre Schwäche bestand in der Perspektive des reinen Widerstands – in der reinen Logik der Verteidigung der sozialen Errungenschaften aus den Kämpfe der vergangenen Jahrzehnte und der Institutionen, von denen man gedacht hatte, dass sie diese Errungenschaften verkörperten. Durch die kommissarische Diktatur, die elitäre Währungsregulierung und die kolonialen Herrschaft eines angeblichen »Zentrums« über die »Peripherie« entledigt sich Europa seiner demokra­tischen Fassade.

Ein Programm, das die Überwindung der Krise zum Ziel hat, kann nur ein konstituierendes Programm sein. Zwei Elemente charakterisieren ein solches Programm: die Festlegung neuer, nicht verhandelbarer Prinzipien und die Schaffung neuer Institutionen. Notwendig ist auch die Erschließung eines neuen politischen europäischen Handlungsraums. Es handelt sich um eine schwierige Aufgabe. Ob sie bewältigt wird, davon hängen der Erfolg künftiger Klassenkämpfe in Europa sowie die Entstehung einer handlungsfähigen europäischen »Linken« ab.
Mittlerweile warnen Ökonomen vor einer mittelfristigen Rezession. Für Europa bedeutet das eine weitere Zersetzung eines ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Raumes, der schon immer sehr heterogen war. Diese Heterogenität wurde uns immer als eine Stärke der EU präsentiert. Die Verschärfung der Schuldenkrise hat dazu geführt, dass man mit dieser Rhetorik endgültig aufgeräumt hat. Heute geht es nicht einmal mehr um das sogenannte Europa der zwei oder drei Geschwindigkeiten. Sogar in den »starken« Ländern der EU, angefangen mit Deutschland, ist die Währungseinheit bedroht. Von einem möglichen Bruch der europäischen Währungsunion durch die Sezession Deutschlands und von einem neuen Block, der sich rund um die D-Mark formieren könnte, hat etwa der italienisch-schweizerische Ökonom Christian Marazzi gesprochen. Er bezieht sich auf die Schwächung der globalen Nachfrage nach deutschen Produkten und auf die Folgen dieser Entwicklung für die soziale Stabilität, auf der das deutsche Modell beruht. Das downgrading Frankreichs durch die Rating-Agenturen sprengt zudem die Achse Paris-Berlin, die ursprünglich dabei war, die Rolle eines europäischen Direktoriums in der Krise zu übernehmen. Die Stabilität des institutionellen Raums der EU wird auch von politischen Entwicklungen bedroht, wie die sozialen Proteste in Rumänien im Januar oder das Abdriften Ungarns in Richtung Faschismus.
Das »Ende Europas« bedeutet selbstverständlich nicht, dass die EU bald verschwinden wird oder dass keine Pläne zu ihrer Umgestaltung existieren. Der französische Philosoph Étienne Balibar spricht diesbezüglich von einer »Revolution von oben« und meint damit die versuchte Neuausrichtung der institutionellen Strukturen der EU rund um die EZB. Die »Revolution von oben« befreit die europäischen Institutionen von jeglicher demokra­tischen Substanz, wie man diese auch immer definieren mag.
Auch in dieser Hinsicht zeigt sich also die Notwendigkeit eines konstituierenden Programms. Das Europa, an dem derzeit gebaut wird, könnte man als »gotisch« bezeichnen: Es ist ein diffuses, hierarchisches Europa, ein Europa-Markt ohne interne demokratische Vermittlungsinstanzen. Das gotische Labyrinth, dessen Architektur primär den Bedürfnissen der Banken und der Finanzmärkte dienen soll, wird mittels einer »Planung« von oben regiert werden. Es gibt schon Beobachter, die von einer quasi-sowjetischen Planung sprechen – von einem Modell zur Produktion nicht von Waren, sondern von Schulden, bei dem jede Abweichung automatisch bestraft werden soll. Es liegt auf der Hand, dass rund um diese Struktur souveränistische und nationalistische Tendenzen entstehen werden, die das exakte Gegenteil des Traums eines föderalen Europa darstellen, in dem die staatliche Souveränität im Prozess der Integration aufgelockert wird.
Eine Spaltung zeichnet sich ab: Auf der einen Seite werden wir die »starken« Länder haben, die in der angeblich fehlenden Steuerdisziplin der »schwachen Mitglieder« aus der Peripherie der EU eine Bedrohung sehen. Auf der anderen Seite stehen die Länder, in denen antieuropäische Ressentiments einen immer deutlicher antideutschen Charakter aufweisen. Es handelt sich um gefährliche und immer gefährlicher werdende Phänomene.

Die »Revolution von oben« hat das Ziel, Rendite abzusichern, und strebt höchstens einen Kompromiss zwischen finanziellen Renditen und Teilen des Industriekapitals an. Die Architekten dieses Europas sind sich bewusst, dass die globalen Strukturen des Kapitalismus – wo die Finanzwirtschaft achtmal so groß ist wie Realökonomie – schon jetzt nicht mehr tragbar sind. Die Stabilisierung Europas ist ein Plan, der langfristig scheitern wird. Aber langfristig werden wir bekanntlich alle tot sein.
Fest steht: Im gotischen Europa werden die Interessen verschiedener Teile des Kapitals bedient, während die Arbeit keinerlei Anerkennung erfährt. Höchstens in Ländern wie Deutschland, in denen die Bedingungen dafür noch gegeben sind, wird die Arbeit in den Strukturen der nationalen Konzertierung gewissermaßen anerkannt. Aber aus diesen Strukturen sind prekäre Arbeiterinnen und Arbeiter immer häufiger ausgeschlossen und auch in Deutschland schwindet die Perspektive auf eine feste, unbefristete Stelle für immer größer werdende Teile der Bevölkerung. Im restlichen Europa findet ein grenzenloser Angriff auf die Arbeitsbedingungen statt. Betroffen sind die Fabrikarbeit, die abhängige Beschäftigung sowie die migrantische, kognitive und selbständige Arbeit. Die öffentlichen Schulden werden auf Frauen und Männern abgewälzt, deren private Verschuldung immer größer wird. Der Angriff auf die Löhne, die strenge Sozialpolitik, die Arbeitslosigkeit, das Schwinden der privaten Ersparnisse, das alles führt dazu, dass sich in Europa die Armut verbreitet und dass sich die sozialen Unterschiede, die ohnehin schon vor der Krise gewaltig waren, dramatisch verschärfen.

Der Widerstand gegen diese Dynamik der Enteignung ist nicht nur berechtigt, sondern notwendig. Nur im Rahmen dieses Widerstands können neue Formen der Zusammenarbeit entstehen, mit dem Ziel, eine Plattform für Forderungen zu entwickeln, die unterschiedliche soziale Subjekte zusammenbringen kann. Für diesen Kampf – das haben der Tahrir-Platz, die spanischen Indignados und die »Occupy«-Bewegung in den USA gezeigt – müssen neue politische Spielräume in den von der Krise erschütterten europäischen Städten eröffnet werden. Aber damit die Perspektive einer Überwindung der Krise konkrete Form annimmt, reichen Widerstandskämpfe auf nationaler Ebene nicht aus. Nur in einem größeren, europäischen Raum wird es möglich sein, ein konstituierendes Programm für die Eroberung des Gemeinsamen zu entwickeln – wobei dieser Begriff die materielle Basis für die Konstruktion einer neuen Art des Zusammenlebens und der Kooperation zwischen freien und gleichen Menschen bezeichnet.
Die für den Frühling geplanten europäischen Mobilisierungen stellen dabei ein wichtiges Moment dar. »Holen wir uns Europa zurück!« könnte zum Slogan dieser Kämpfe werden. Die Schuldenkrise droht, unsere Leben in den kommenden Jahren zu bestimmen. Wir müssen uns dagegen rüsten. Wir fangen nicht bei null an: Die sozialen Kämpfe der vergangenen Jahren sowie die Revolten in den Ländern des Maghreb haben die Gedanken und die Sprache der europäischen Bewegungen stark beeinflusst. Eine große transnationale Kampagne, um das Leben von den Schulden und die Politik von der Erpressung des Bankrotts zu befreien, könnte der Beginn einer europäischen Bewegung sein. Es geht darum, gemeinsame politische Kämpfe zu entwickeln und ein Programm zu erarbeiten, in dem weder die Sehnsucht nach den Nationalstaaten noch Kompromisse mit dem gotischen Europa Platz haben.

Aus dem Italienischen von Federica Matteoni. Es handelt sich um eine redaktionell bearbeitete und gekürzte Fassung des Aufrufs »Riprendiamoci l’Europa!« (www.uninomade.org)