Eine rosige Dreiviertelewigkeit
Vor 30 Jahren wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt und sollte dies für die folgenden 16 Jahre – beziehungsweise eine gefühlte Dreiviertelewigkeit für alle, die diese Zeit bei vollem Bewusstsein miterlebt haben – auch bleiben. Damit das auch ja niemand vergisst, rief die CDU in der vergangenen Woche zu den großen Kohl-Festspielen, mit zwei Auftritten des Altkanzlers vor der Fraktion im Bundestag und bei einer Feierstunde der Konrad-Adenauer-Stiftung. Eine Sonderbriefmarke gibt’s auch noch.
Solche Anlässe wecken Erinnerungen, darunter auch sehr persönliche: Wegen der Sondersendungen zum Misstrauensvotum 1982, durch das Kohl ins Amt gelangte, fiel die »Sesamstraße« aus. So werden schon im Kindesalter Feindbilder geboren.
Dabei war nicht alles schlecht in der Ära Kohl. Kabarettisten, die einen Pfälzer Dialekt auch nur leidlich imitieren konnten, brauchten um ihr Auskommen nicht zu bangen, die Rente war sicher, das Wort »Prekariat« noch nicht einmal erfunden. Die sozialpolitischen Vorstellungen jener fernen Epoche werden heutzutage nur noch von einer Partei vertreten, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Leider verhinderte die von »Birne« ausgerufene »geistig-moralische Wende« nicht, dass die Leute mit schlimmen Frisuren herumliefen; andererseits war es trotz des angedrohten Rechtsrucks noch möglich, Häuser zu besetzen und länger als eine Stunde drinnen zu bleiben, ehe die Polizei anrückte. Sicherlich: Kohl besuchte gemeinsam mit Ronald Reagan die Gräber von SS-Angehörigen in Bitburg, was Jürgen Habermas zu Recht als »Entsorgung der Vergangenheit« anprangerte. Einen Angriffskrieg mit der dazu passenden »Geschichtsbewältigung« unter dem zynischen Motto »Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz« zu legitimieren, war allerdings nur mit einer rot-grünen Regierung möglich. Auch für die Wiedervereinigung konnte der Mann aus Oggersheim relativ wenig: Man sollte nicht vergessen, dass sogenannte große Persönlichkeiten nun einmal Bewohner des Überbaus sind. Auch wenn Kohl im öffentlichen Gedächtnis längst seinen Platz als Abrissbirne der Mauer gefunden hat, ist Geschichte nun einmal in erster Linie das Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Eben deshalb war der behäbige Saumagenliebhaber der passende Kanzler für die im Rückblick so beschaulichen Achtziger. Die zweite Hälfte seiner Amtszeit war hingegen von einem immer lauteren medialen Gemecker über den »Stillstand« geprägt. Den Mann, der die Dinge in Bewegung bringt – also deutsche Bomber nach Serbien und Erwerbslose zum Spießrutenlaufen beim Amt –, musste ein anderer personifizieren. Es gehört somit auch zu Gerhard Schröders fragwürdigen Verdiensten, dass sein Amtsvorgänger im Nachhinein in so rosigem Licht dasteht.
Eine »gute alte Zeit« war die Ära Kohl dennoch nicht. Kapitalismus bleibt Kapitalismus, sei es in Form einer sozialversicherten Höllenarbeit auf Lebenszeit samt abendlichem Dahindämmern vor der »Schwarzwaldklinik« oder im Einsatz als flexibles Humankapital in zwei bis drei Minijobs mit Aussicht auf ein 850-Euro-Almosen, wenn man nicht mehr dazu taugt, ausgebeutet zu werden.
Auch der schlechte Einfluss des scheinbar ewigen Kanzlers auf schlichtere Gemüter soll nicht verschwiegen werden. »Andere Mädchen schwärmten für Pferde, ich für Helmut Kohl«, outete sich eine gewisse Kristina Köhler, die mittlerweile Schröder heißt – wohin so etwas führt, lässt sich auf der Website des Familienministeriums besichtigen.
Und war da nicht noch etwas mit schwarzen Kassen? Sowas soll in den besten Demokratien vorkommen. Kohls Weigerung, die Namen der unbekannten Wohltäter preiszugeben, ist übrigens nichts anderes als die praktische Umsetzung der Parole, die man immer wieder in linken Rechtshilfebroschüren liest: »Anna und Arthur halten’s Maul.« So gesehen darf man ihn dann doch als Vorbild betrachten.