Frankreich will stärker gegen jihadistischen Terrorismus vorgehen

Zuschlagen statt wegsehen

Die französische Regierung will nach dem Versagen der Geheimdienste im Fall des jihadistischen Attentäters Mohammed Merah stärker gegen Terrorismus im In- und Ausland vorgehen.

Eklatanten Widersprüchen meint die Pariser Abendzeitung Le Monde auf die Spur gekommen zu sein. Es geht um den Werdegang von Mohammed Merah, der sich jahrelang in Südwestfrankreich in jihadistische Ideologie vertieft hatte und schließlich im März zunächst drei Soldaten und später drei Kinder sowie einen Lehrer einer jüdischen Schule ermordete. Die liberale Zeitung konnte sich das Protokoll einer Vernehmung des früheren Leiters des französischen Inlandsgeheimdienstes DCRI, Bernard Squarcini, beschaffen, der nach dem Regierungswechsel im Früh­sommer seines Postens enthoben wurde. Er war am 25. September durch den Untersuchungsrichter Christophe Teissier als Zeuge vernommen worden. Aber auch an Vermerke des Geheimdiensts aus den Jahren 2006 bis 2011 kam die Redaktion heran.
Anhand der verschiedenen Dokumente lassen sich Widersprüche erkennen. Zwar versicherte Squarcini dem Untersuchungsrichter, es sei den Geheimdiensten nicht möglich gewesen, das Abdriften Merahs in den Jihadismus zu erkennen. Dies habe am »Fehlen eines aktivistischen Lebensstils« gelegen, so Squarcini am 25. September – gemeint ist eine erkennbar islamistisch geprägte Lebensführung im Alltag. Merah hat Squarcini zufolge zu jenen Jihadisten gehört, »die einen westlichen Lebenswandel an den Tag legen und ihre extremistischen Gedanken verbergen«.
Genau dies bestreitet Le Monde jedoch nach Lektüre der internen Vermerke der DCRI. 2010 wurde Merah demnach als gewalttätig eingestuft, da er gegenüber zwei Frauen, denen er »mangelnden Respekt vor ihm als Muslim« vorwarf, ausfällig wurde. Es wurde verzeichnet, er betrachte Videofilme, die die Tötung von US-Soldaten durch Jihadisten zeigen. Im März 2011 wurde vermerkt, Merah lebe seit einiger Zeit »abgeschlossen in seiner Wohnung, er legt großes Misstrauen an den Tag«. Er benutze kein Mobiltelefon und keinen Internetanschluss mehr, die auf seinen eigenen Namen registriert seien. Dies hätte normalerweise die Alarmglocken schrillen lassen müssen, zumal die Geheimdienste zu dem Zeitpunkt wussten, dass Merah sich im Herbst 2010 in Afghanistan aufgehalten hatte, wo er binnen kurzem in der Taliban-Hochburg Kandahar von US-Soldaten festgenommen wurde.
Man hätte mutmaßen können, schlussfolgert Le Monde, dass Merah sich in einem unkontrollierten »Radikalisierungsprozess« befand. Warum reagierte die DRCI dann nicht? Dafür kann es zwei Erklärungen geben, die sich nicht ausschließen. So waren untergebene Bedienstete offenkundig der Auffassung, Merah »umdrehen« zu können, weil dieser sich im persönlichen Umgang freundlich und aufgeschlossen geben konnte, im Unterschied zu anderen radikalen Islamisten. Zudem wurden auch an der Spitze des Apparats keinerlei neue Anweisungen zum Umgang mit dem Fall Merah gegeben. Die oberste Leitung der DCRI war vor allem in den letzten beiden Amtsjahren des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy vorrangig mit anderen Dingen beschäftigt. Squarcini kam ins Gerede, als er im Hochsommer 2010 durch die Auswertung von Telefondaten blitzschnell herausfand, welche Person im Justizministerium zwei Journalisten von Le Monde über brisante Details im Umgang mit einer sensiblen Korruptionsakte unterrichtet hatte. Es ging um den Fall Liliane Bettencourt, in dem auch Sarkozy zu den mutmaßlichen Nutznießern illegaler Geldflüsse zählte. Der betrof­fene Beamte, David Sénat, wurde daraufhin in Windeseile von Paris nach Cayenne in Französisch-Guyana strafversetzt.

Um ihren Ruf zu verbessern, haben dieselben Geheimdienste Anfang Oktober einen Präventivschlag gegen mutmaßliche Jihadisten durchgeführt. Erst im Nachhinein stellten die Ermittler einen Zusammenhang zum Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt in Sarcelles vom 19. September her. Am 6. Oktober fanden Durchsuchungen in Cannes, Strasbourg und Torcy, in der Nähe von Paris, statt. Einer der Hauptverdächtigen, der vor zwei Jahren zum Islam konvertierte und ohne Umwege direkt zum salafistischen Fundamentalismus fand, war der frühere Drogenhändler Jérémy-Louis Sidney. Der aus der Karibik stammende Franzose von Anfang 30 war im Gefängnis konvertiert. Er eröffnete bei der Durchsuchung in Torcy unverzüglich das Feuer auf die Polizisten, die ihn daraufhin erschossen. In einer von seiner jihadistischen Gruppe angemieteten Garagenbox in Torcy wurden unter anderem Chemikalien zur Herstellung von Sprengstoff sowie eine handschriftliche Liste mit den Adressen jüdischer Vereinigungen aufgefunden. Eine Woche später wurden weitere Mitglieder der etwa zehnköpfigen jihadistischen Gruppe festgenommen. Ein Teil von ihnen befindet sich vermutlich auf der Flucht, mit den Verhafteten sympathisierende Jihadisten kämpfen wahrscheinlich derzeit in Syrien. In ihren Augen ist die dortige Diktatur nicht nur ein Unrechtsregime, sondern zudem »häretisch«, da es von Alawiten geführt wird.
Die französische Regierung reagierte auf die früheren Versäumnisse mit der Aufstockung der Mittel für die Terrorismusbekämpfung und erweiterte die gesetzlichen Befugnisse des Sicherheitsapparats. Mitte Oktober verabschiedete der französische Senat ein neues Antiterrorgesetz, das vermutlich ab dem 20. November in der Nationalversammlung debattiert werden wird.
Unter anderem sieht der Entwurf vor, die seit dem letzten Gesetz von Anfang 2006 erlaubte Vorratsdatenspeicherung von Telefon- und Internetdaten, die bis Ende 2012 befristet ist, um drei Jahre zu verlängern. Diese Vorratsdatenspeicherung war es auch, die dem Inlandsgeheimdienst das Aufspüren Sénats als Informant der Journalisten erlaubte. Ferner sollen auch französische Staatsbürger, die nur im Ausland Aktivitäten betreiben, die als Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gelten, strafrechtlich verfolgt werden. Ein Anlass hierfür ist, dass zwei Franzosen bei den in Nordmali operierenden Jihadisten verortet wurden, wo sie unter anderem als Übersetzer tätig sind.