Die Graphic Novel »Die Kunst zu fliegen«

Nach Franco

Die Graphic Novel »Die Kunst zu fliegen« von Antonio Altarriba und Kim ist ein Grundkurs in spanischer Geschichte. Es geht um das Leid, das der Bürgerkrieg und später die Deutschen über das Land gebracht haben, um Exil, Widerstand und das Leben in den Lagern, die Franco-Diktatur und die Entstehung der Demokratie.

In der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts stellt das Jahr 1945 mit dem Sieg der Alliierten über das ­nationalsozialistische Deutschland und der Befreiung des Kontinents vom Faschismus so etwas wie einen Neuanfang dar. Auf Portugal und Spanien trifft das allerdings nicht zu. Beide Länder waren nicht aktiv am Krieg beteiligt, somit wurde dort, anders als etwa in Italien, den faschistischen Regime auch nicht von den Alliierten ein Ende bereitet. Der Estado Novo, die Diktatur António de Oliveira Salazars in Portugal, begann erst 1970 mit dem Tod Salazars zu bröckeln, hielt sich aber noch bis zur Nelkenrevolution im April 1974. Etwas mehr als ein Jahr später, im November 1975, brach schließlich auch der Falangismus in Spanien zusammen, nachdem General Franco an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben war.
Was dann geschah, wird in der spanischen Geschichtsschreibung als transición bezeichnet. Friedlich und ohne größere Probleme, so die Legende, habe Spanien sich selbst von der Diktatur befreit und sich in eine mustergültige Demokratie verwandelt. Die »zwei Spanien«, also die beiden Parteien des Bürgerkriegs der dreißiger Jahre, haben sich wieder brüderlich vereint. Alles, was geschehen ist, vergeben und vergessen. Das ist die Darstellung, die zumindest bis zur Jahrtausendwende den spanischen Diskurs über die eigene Geschichte wesentlich bestimmt hat. All das ist natürlich – wie jeder nationale Mythos – ziemlicher Unsinn.
Wer die Geschichte Spaniens mit Distanz betrachtet, wie es Till Sträter in seinem Aufsatz in dem von ihm mitherausgegebenen Buch »Zwischen Ignoranz und Inszenierung« versucht, stößt schnell auf Widersprüche. Das beginnt schon damit, dass das Oberhaupt des neuen Spanien, der bis heute regierende König Juan Carlos, noch von General Franco selbst zu seinem Nachfolger ernannt worden war. Auch Mi­litär, Polizei und Verwaltung zeichneten sich aller Reformen zum Trotz durch ein hohes Maß an personeller Kontinuität aus. Von einer ruptura, einem Bruch, wie ihn Kommunisten und Sozialisten gefordert hatten, konnte keine Rede sein. Man könnte die gesamte transición mit gutem Gewissen als eine Art Tauschhandel bezeichnen, bei dem die Falangisten und das Militär die Macht zwar aus den Händen gaben, sich diesen Schritt jedoch mit totaler Straffreiheit für die begangenen Verbrechen bezahlen ließen.
Stets wurde betont, dieser Kompromiss diene der Versöhnung und nütze auch der anderen Seite. Tatsächlich wurden viele aus politischen Gründen Verfolgte nach Erlass eines Amnestiegesetzes 1977 aus den Gefängnissen entlassen. Versucht wurde so, die Vergehen der Opposition und die der auf republikanischer Seite am Bürgerkrieg Beteiligten mit den Verbrechen der Falangisten und des Militärs auf eine Stufe zu stellen. Ein 2008 vorgelegter Bericht einer Historikerkommission geht von rund 130 000 »Verschwundenen« aus, die überall in Spanien in Massengräbern verscharrt worden sind.
Die Praxis des »Verschwindenlassens« war es auch, die schließlich zu einer Neuorientierung in der Debatte innerhalb der spanischen Gesellschaft geführt hat. In einem Zeitungsartikel machte der Journalist und Soziologe Emilia Silva das Schicksal seines Großvaters öffentlich. Dieser wurde 1936 Opfer einer Massenerschießung durch Anhänger Francos und endete in einem jener Massengräber, die im Jahr 2000 nach 64 Jahren geöffnet wurden. Später gründete Silva die Vereinigung für die Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses. Sträter meint, es sei keinesweg ein Zufall, dass diese Ereignisse ausgerechnet in die Amtszeit José María Aznars, des ersten Ministerpräsidenten der rechtskonservativen Partido Popular, fallen. Nicht nur hatte Aznar selbst in jungen Jahren offen Bewunderung für Franco geäußert, seine Regierung war auch die erste, die sich nicht zu entscheidenden Teilen aus der ehemaligen Oppo­sition gegen Franco zusammensetzte. Erst in der Opposition konnte Aznars Gegenspieler, der Sozialdemokrat José Luis Zapatero, sich gefahrlos die Forderungen der Erinnerungsbewegung auf die Fahnen schreiben – Forderungen, die seine eigene Partei mit Verweis auf die Mythen der transición lange selbst unterdrückt hatte – und sie zu einem wichtigen Bestandteil seiner Wahlkampagne machen.
Walter Benjamin bemerkte, sich der eigenen verschütteten Geschichte zu nähern, ähnele der Tätigkeit des Grabens. Jeder Spatenstich kann einen neuen Fund hervorbringen, der die bisherige Geschichtsschreibung verändert. Geschichte ist immer eine im Jetzt sich vollziehende Interpretation des Vergangenen. Sie sagt ebenso viel über die Gegenwart aus wie über das, was sie eigentlich zu beschreiben sucht. Geschichtliche Mythen, also nicht auf Rationalität fußende Bilder der Vergangenheit, sind daher immer auch ideologische und politische Schlachtfelder.
Um eine ganz andere Form des Ausgrabens von Geschichte geht es in einem Comic, der von der spanischen Geschichte handelt und kürzlich erstmals in deutscher Übersetzung erschienen ist. Der baskische Schriftsteller und Literaturprofessor Antonio Altarriba zeichnet in seiner Graphic Novel »Die Kunst zu fliegen« die Lebensgeschichte seines Vaters nach, der im Mai 2001 aus dem vierten Stock des Seniorenheims, in dem er zuletzt gelebt hatte, in den Tod sprang. Er versucht zu verstehen, warum sein Vater so war, wie er war, und so wie er waren viele. Wie er hatten hatten Millionen während des Spanischen Bürgerkriegs auf Seiten der Republik gestanden, hatten gehofft und gekämpft für ein freieres, ein besseres Spanien und fanden sich schließlich doch als mittellose Verlierer ohne Besitz und ohne soziale Anerkennung in einer Gesellschaft wieder, die von Militär, Autoritarismus und Katholizismus geprägt war wie das alte Spanien. Altarriba zur Seite steht der vom frühen US-amerikanischen Underground, aber auch von der francobelgischen Schule inspirierte Zeichner Kim. Mit seinen Bildern erzählt und illustriert Kim mit großer emotionaler Kraft die Geschichte eines Mannes, der aus der von Gewalt und Entbehrungen geprägten Welt seines Heimatdorfes flieht und in einer anarchistischen Einheit im Bürgerkrieg kämpft, der nach Frankreich flüchtet und irgendwie den Krieg übersteht, nur um schließlich doch in ein Land zurückzukehren, das nicht mehr seines ist. Das Schwarz, Weiß und Grau seiner Zeichnungen unterstreicht dabei die selbst in den fröhlichsten Momenten mitschwingende Melancholie der Lebensbeichte eines am Ende schwer depressiven Mannes, der nicht nur von seinem Land und seinen Freunden, sondern am Ende auch von sich selbst enttäuscht wird.
Wie Silva nach den sterblichen Resten seines Großvater grub, gräbt Altarriba im Leben seines Vaters, weil er ihn, aber auch das Land, in dem er lebt, verstehen möchte. »Die Kunst zu fliegen« bietet einen Einblick in die spanische Gesellschaft, der nahelegt, dass der tiefgreifende Wandel niemals stattgefunden hat. Silvas Recherchen, die das Schweigen der Gesellschaft zu brechen halfen, und die biographischen Notizen, die der Vater an seinen Sohn richtet, und mit denen er sein persönliches Schweigen gebrochen hat, fallen in dieselbe Zeit. Beides sind Akte der Befreiung.
»Das Land gehört immer dem, der am stärksten darum kämpft«, lässt Altarriba seinen Großvater gleich zu Beginn seiner Erzählung sagen. Dass es sich ebenso lohnt, um Geschichte zu kämpfen, belegen die beiden Bücher.

Henning Fischer u. a. (Hrsg.): Zwischen Ignoranz und Inszenierung: Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2012, 200 Seiten, 19,90 Seiten

Antonio Altarriba und Kim: Die Kunst zu fliegen. Avant-Verlag, Berlin 2012, 208 Seiten, 24,95 Euro