Der Film »Tabu«

Postkoloniale Krokodile

Eine exzentrische alte Frau, ihre kapverdische Hausbesorgerin und eine sozial engagierte Nachbarin leben im selben Haus in Lissabon. Als die alte Frau stirbt, erfahren die Nachbarinnen von einem bis dahin unbekannten Ereignis aus ihrer Vergangenheit: die Geschichte einer Liebe und eines Verbrechens im Afrika der Abenteuerfilme.

Ein trauriger und melancholischer Entdecker stapft durch den Dschungel, irgendwo tief im »Herzen des dunklen Kontinents«, wie es in Anspielung auf Joseph Conrads berühmte Erzählung aus den Hochzeiten des Kolonialismus heißt. Der bärtige Mann mit den hängenden Schultern will bis ans Ende der Welt laufen; die Erinnerung an seine tote Frau lässt ihn nicht los. Verschlungen wie das Gewächs des Urwalds ist auch die Darstellung des Erzählers. Die Rede ist vom Herzen als dem »aufmüpfigsten Muskel« des menschlichen Körpers, von einem »launischen Organ«. Wenig später wird er von einem Krokodil gefressen und lebt gleichsam in ihm fort: Nun ist es das Tier, das traurig und melancholisch ist. Das Krokodil aus dem Prolog des Films »Tabu – Eine Geschichte von Liebe und Schuld« taucht im Laufe der Erzählung immer wieder auf: in Form eines Kiddie Ride in einem Einkaufszentrum in Lissabon, als Wolkenbild, als süßes Babykrokodil namens Dandy und als Mitauslöser eines leidenschaftlichen Liebesdramas. »Tabu« wird bevölkert von Wiedergängern, von Objekten und ­Situationen, die sich wiederholen, oder anders gesagt: in reinkarnierter Form immer wieder auftauchen, als Abbild von etwas längst Verlorenem, als Phantom.
»Aurora hatte eine Farm in Afrika, am Fuße des Monte Tabu«, heißt es in der Mitte des Films – ein Wiedergängermotiv sowohl aus der Geschichte des westlichen Kinos und seiner Afrikabilder (etwa aus Sidney Pollacks Schmonzette »Out of Africa«) wie auch aus der portugiesischen Kolonialvergangenheit. Geschichte und Erinnerung sind in »Tabu« mit den Bildern des Kinos aufs Engste verwoben.
Der Prolog ist ein Film im Film, in berückend schönen Schwarzweiß-Bildern mit grober Körnung und von einer eleganten Klaviermusik begleitet. Eine Frau sieht die Bilder des Prologs im Kino. Sie heißt Pilar (Teresa Madruga), ist Rentnerin und eine der drei schrulligen Frauenfiguren, von denen der erste, in der Jetztzeit spielende Teil des Films handelt. Es seien »Frauen, über die normalerweise keine Filme gemacht werden«, sagt der portugiesische Filmemacher Miguel Gomes über seine Figuren. Pilar ist streng katholisch und sozial engagiert, sie geht auf Demos und während der Schweigeminute betet sie dort zum heiligen Antonius. Außerdem kümmert sie sich um ihre Nachbarin Aurora (Laura Sovedal), eine einsame und überkandidelte alte Dame, die die dumpfe Ereignislosigkeit in ihrer beengenden Lissaboner Wohnung aussitzt, wenn sie nicht gerade ihr letztes Geld im Spielcasino verpulvert. In den letzten Tagen des Jahres drängen sich Bilder aus Auroras Vergangenheit und der alten Kolonialengesellschaft immer hartnäckiger in die postkoloniale Gegenwart. Die ehemalige Siedlerin phantasiert von einem Krokodil und verdächtigt ihre kapverdische Haushälterin Santa (Isabel Cardoso) der Hexerei.
»Das verlorene Paradies« hat Gomes den ersten Teil seines ebenso klugen wie verspielten Films betitelt – eine ironische Anspielung auf das mit der Nelkenrevolution Mitte der siebziger Jahre zu Ende gegangene Kolonialreich und auf die weltabgewandten, künstlich errichteten »Inseln« in der exotischen Fremde, wo sich die herrschende Klasse mit kultiviertem Ennui und Großwildjagd die Zeit vertrieb. Der Untertitel ist zudem die Umkehrung einer filmhistorischen Vorlage: »Tabu« heißt der letzte Film von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1931, auch dieser besteht aus zwei Teilen, allerdings geht hier das »Paradies« dem »verlorenen Paradies« voraus. Die umgekehrte zeitliche Ordnung ist bei Gomes jedoch nur der vordergründige Witz: Tatsächlich verhalten sich beide Teile nicht linear zueinander, sondern kommentieren einander.
Nur vordergründig ist der erste Teil des Films der realitätsnähere, im Grunde ist den Figuren die Wirklichkeit längst abhanden gekommen. Gomes setzt das Schwarzweiß des Anfangs fort, nur sind die Bilder jetzt glatt, flach und ohne jede Haptik. Die Stimmung ist entrückt, das Tempo verzögert, eine leicht depressive Hangover-Stimmung liegt über allem. Pilar, Aurora und Santa wirken starr, wie eingefroren und mitunter erzeugen ihre verstockten Dialoge einen echohaften Nachklang und verheddern sich in Wiederholungsschleifen. Der Übergang zum »Paradies« erfolgt schließlich in einer Shopping Mall mit künstlich angelegtem Dschungel; mit einem langsamen Kameraschwenk öffnet sich der Blick auf ein Dickicht von Palmen und anderen exotischen Gewächsen – eine Sequenz, die sich wie ein Gewinde in den zweiten Teil des Films schraubt.
Venura, einst Auroras feuriger Liebhaber, inzwischen Bewohner eines Altersheims, ist der Erzähler des folgenden Teils, der die Vergangenheit Auroras in einer fiktiven ehemaligen Kolonie Portugals rekapituliert. Gomes inszeniert ihn nicht als klassische Rückblende, sondern als eine Art filmische Erinnerung – es könnten Pilars innere Bilder sein, die sie als ästhetische Fortsetzung des Films imaginiert, den sie zu Anfang im Kino gesehen hat. »Paradies« ist auf 16mm-Material gedreht – im Unterschied zum ersten Teil, der auf 35mm-Material gedreht ist – und bis auf die Erzählerstimme, gedämpften Umgebungsgeräuschen und Musik ein stummer Film. Doch trotz seiner Anleihen beim Stummfilm des klassischen Hollywoodkinos versucht Gomes kein mimetisches (und hermetisches) Abbild dieser vergangenen Ära zu entwerfen. Das Bild ist prachtvoll, aber milchig, mit vielen Grauwerten; auch kompensieren Inszenierung und Montage nicht die Abwesenheit des gesprochenen Tons (so wie es etwa Guy Maddin in seinen expressiven Filmen macht oder der altbackene »The Artist«). Mitunter gibt es etwa längere stumme Dialogpassagen im Stil von einfachen Homemovies, die eben nichts »Gebautes« haben, sondern die Kamera einfach dorthin richten, wo die Aktion vermutet wird. Das Kino ist in dieser Ästhetik fest eingeschlossen: in dem Moustache-Look des jungen Ventura (Carloto Cotta), eine Mischung auf Errol Flynn und Clark Gable (auch er ein Darsteller in Hollywoods Afrikaphantasien, etwa in John Fords »Mogambo«). An anderer Stelle wird berichtet, Aurora habe als Jagdberaterin an dem Film »Nie wieder Schnee am Kilimandscharo« gearbeitet. Selbst einen Kalauer bringt Gomes zum Funkeln.
Auch wenn sich Gomes wenig um historische Rekonstruktionen schert, ist seine Haltung keine nachaufklärerische. Eher verfehlt er gezielt ein konventionelles Verständnis von Aufklärung im Sinne eines ideologisch abgedichteten Diskurses, wenn er die Liebesgeschichte von Aurora und Ventura so großformatig an den politischen Verhältnissen vorbeierzählt, sie dann aber auf umso abstrusere Art miteinander verknüpft. Denn als die verbotene Beziehung der beiden ein Todesopfer fordert, reklamiert die antikoloniale Befreiungsbewegung den Toten, ein Angehöriger der Kolonialmiliz, sogleich für ihre Sache, was den Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges mitauslöst. Gomes’ ungebändigte Fabulierkunst ist nicht zuletzt ein Vehikel für die Aufmischung und Vergegenwärtigung des Vergangenen – ebenso wie das Krokodil vervielfältigt sich auch die (kolonialpolitische und filmische) Geschichte in schillernde Variationen und nistet sich ein in die Gegenwart.

Tabu. Eine Geschichte von Liebe und Schuld (Portugal/Deutschland/Brasilien/Frankreich 2012) Regie: Miguel Gomes. Kinostart: 20. Dezember 2012