Der Umgang des Staates mit den Opfern rechter Gewalt

Eine Runde Mitleid

Kein Gedenken ohne Schlussstrich. Über den Umgang des deutschen Staates mit den Opfern rechter Gewalt.

Er hat sich lange geziert, nun tut er es doch: Bundespräsident Joachim Gauck hat die Familien der NSU-Opfer ins Schloss Bellevue eingeladen. Erhoffen sollte man sich davon nichts. Auf dem Menü­plan stehen warme Worte an Blitzlichtsalat, dazu eine Mousse aus persönlicher Zerknirschung und christlichem Mitleid. Gauck kennt sich in der Materie aus. Wie schon anlässlich des 20. Jahrestags des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen wird er von »Mahnung« sprechen, von »Wachsamkeit« und »Solidarität«. Er wird sagen, dass »so etwas nie wieder geschehen darf« und wird damit, anderthalb Jahre nach Aufdeckung der Mordserie, einen medialen Schlussstrich unter das Thema ziehen.

Zu diesem Zweck ehrte er bei einem Empfang vor zwei Wochen schon mal den NSU-Untersuchungsausschuss, obgleich dessen Arbeit weder abgeschlossen ist noch abgeschlossen werden kann, wenn weiter hingenommen wird, dass Mitarbeiter des Verfassungsschutzes dem Kontrollgremium jenes Staates, dem sie zu dienen vorgeben, Akten vorenthalten und Auskunft verweigern. Auch damit sollte sich Gauck, als langjähriger Hüter der Stasi-Akten, bestens auskennen. Vielleicht wird er im Beisein von Angehörigen der Opfer nicht ständig von »Einheimischen« und »Fremden« sprechen, wie noch in Lichtenhagen. Aber das Wort »Rassismus« wird er auch in dieser Schlussstrichrede zu vermeiden suchen. Ebenso wenig ist zu erwarten, dass er die vielbeschworene moralische Autorität seines Amtes einsetzen wird, um konkrete Maßnahmen zu fordern. Weder wird er von seiner präsidialen Kanzel donnern, dass die Polizeistatistik mit ihren gerade mal 58 anerkannten Opfern rechter Gewalt eine Verhöhnung der 124 weiteren Opfer darstellt, die etwa die Amadeu-Antonio-Stiftung benennt. Noch wird er sich für die Bundesratsinitiative zum Thema »Hate Crimes« von 2012 stark machen, bei der es nicht nur um längere Haftstrafen für die Täter geht, sondern auch darum, die psychischen und emotionalen Auswirkungen auf Hinterbliebene und andere Angehörige jener Minderheit zu berücksichtigen, die mit der Tat am Einzelnen als Gruppe angegriffen wurde.

Schon gar nicht wird sich Gauck dafür einsetzen, dass die Ermittlungen zum Brandanschlag in Lübeck 1996, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen, wieder aufgenommen werden, obwohl sein Empfang für die Angehörigen der NSU-Opfer das perfekte Podium dafür wäre. Schließlich suchte die Polizei schon in Lübeck – trotz erdrückender Indizien gegen vier Mecklenburger Neonazis – die Schuld bei den Migranten selbst, Stichwort: Mafia und Drogenhandel. Man ging sogar so weit, einen der Hausbewohner, Safwan Eid, vor Gericht zu stellen. Nach dessen Freispruch wurden die Ermittlungen dann eingestellt, ungeachtet der Tatsache, dass einer der vier Neonazis die Tat inzwischen gestanden hatte. Und als wären es der Parallelen nicht genug, gab es auch hier mindestens einen V-Mann des Verfassungsschutzes im Umfeld der mutmaßlichen Täter. Dennoch wurde der Antrag auf Wiederaufnahme vom schleswig-holsteinischen Justizministerium 2012 erneut abgelehnt, und Gauck wird diesen Schlussstrich nicht hinterfragen. Er wird auch nicht sagen, dass es ihn beschämt, wenn Bürgermeister, wie etwa der derzeit wegen eines Korruptionsverdachts vom Amt suspendierte Klaus-Dieter Hübner (FDP) in Guben oder Stefan Skora (CDU) in Hoyerswerda, weniger die bei ihnen geschehenen Verbrechen beklagen als vielmehr die »Stigmatisierung«, die ihre Gemeinden dadurch erlitten hätten. Weder wird er von Hübner verlangen, endlich für ein würdiges Gedenken an Farid Guendoul zu sorgen. Noch wird er Skora für dessen bizarre Gedenkinstallation »Orange Box« rügen, in der das Pogrom von 1991 verharmlost und relativiert wird. Und schon gar nicht wird Gauck den Heimatbegriff solcher Gemeinden in Frage stellen, der nicht friedvoll »allen in die Kindheit scheint«, wie der von Ernst Bloch, sondern ein Zusammengehörigkeitsgefühl aus realsozialistisch konservierter brauner Vergangenheit hochhält, bei dem Bedrohliches (»Ausländer«, Nazis, Gegendemonstranten) stets von außen kommt und die eigene Verantwortung so affektiv geleugnet und verdrängt wird, dass alle Versuche des Gedenkens nur in Grotesken enden können.

So wie kürzlich in Dessau, wo zwar des 2005 in seiner Zelle verbrannten Oury Jalloh endlich auch offiziell gedacht werden sollte, sogar im Beisein des Bürgermeisters und des neuen Polizeipräsidenten, was aber gerade deshalb einen Schlussstrich unter einen Fall gezogen hätte, der bis heute nicht annähernd aufgeklärt ist und als möglicher Mordfall ohnehin nie untersucht wurde. Mitglieder der Initiative »Gedenken an Oury Jalloh« sorgten dafür, dass das nicht gelang, und die Mitteldeutsche Zeitung fühlte sich bemüßigt, die Störer in einem einzigen Artikel gleich viermal als Berliner zu kennzeichnen. Alles könnte ja so heimelig sein ohne Unruhestifter von außen. Oder wie Gauck es einst formulierte: »Rostock ist nicht Berlin – Gäste haben sich zu fügen und einzuordnen.« 1988, als er das sagte, war er noch Pastor und sein Auftrag war es, der DDR in Rostock einen störungsfreien Kirchentag zu organisieren, nachdem das zuvor in Berlin nicht ganz gelungen war. Als Bundespräsident konstatierte er 2012, abermals in Rostock: »Die Angst vor dem Fremden ist tief in uns verwurzelt.« Anschließend pflanzte er zum Andenken an das Pogrom ausgerechnet eine deutsche Eiche.
Dass ihm ein solcher Fauxpas nun wieder passiert, steht nicht zu befürchten. Seine Berater werden ihm sicher ausreden, den Familien der Opfer Präsentkörbe mit Thüringer Bratwürsten zu überreichen. Auch darf man annehmen, dass das Wachpersonal von Bellevue besser geschult ist als jenes in Rostock, das zwei geladene Gäste wegen ihrer Hautfarbe nicht auf das Gelände ließ. Der Schlussstrich von Bellevue soll und wird perfekt werden. Auf dass man der schrecklichen Vorkommnisse zukünftig angenehm gedenken kann, störungsfrei und folgenlos. Denn: »Eine linde Antwort stillt den Zorn; aber ein hartes Wort richtet Grimm an.« (Sprüche 15,1) Amen.