Jost Rebentisch im Gespräch über sogenannte Ghettorenten

»Arbeiten bedeutete Überleben«

NS-Überlebende, die in einem Ghetto gearbeitet haben, haben dafür nie vollständig ihre Rente erhalten. Nun hat der Bundestag zwei Anträge der Opposition abgelehnt, die eine rückwirkende Auszahlung ermöglichen sollten. Jost Rebentisch vom Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte erläutert das Problem.

Schon seit 2002 gibt es das Gesetz zur Zahlbarmachung der Ghettorenten, das ZRBG. Es sieht vor, dass Ghettoarbeiter rückwirkend ab 1997 Renten erhalten. Warum sind die Renten damals nicht ausgezahlt worden?
Die Rentenversicherungen hatten vorher aus­gerechnet, dass 2 000 bis 5 000 Anträge gestellt werden würden. Dann waren es aber über 70 000, die Versicherungen waren rundheraus überfordert. Es gab auch keine Einweisung für die Mitarbeiter der verschiedenen Rentenversicherungen, die haben diese Anträge auf den Tisch bekommen und haben sie behandelt wie normale deutsche Rentenanträge von normalen deutschen Rentnern. Das Problem ist aber, dass, um diese Rente zu bekommen, zwei Kriterien erfüllt sein müssen: die Entgeltlichkeit und die »Freiwilligkeit« der Arbeitsaufnahme. Und das haben die Rentenversicherungen restriktiv ausgelegt. Es wurde gesagt: »Du hast diese Tätigkeit nicht freiwillig ausgeübt, deswegen kriegst du keine Rente«, »Du hast kein Entgelt bekommen und deswegen kriegst du keine Rente« oder »Der Ort, an dem du warst, war gar kein Ghetto«. 90 Prozent der Anträge wurden abgelehnt.
Das Bundessozialgericht hat dann 2009 entschieden, dass das ZRBG weiter ausgelegt werden muss, um die besonderen Umstände im Ghetto zu berücksichtigen.
Ja, daraufhin haben die Rentenversicherungen die bereits abgelehnten Fälle überprüft, und viele Antragsteller haben doch noch ihre Ghettorente bekommen. Das Problem, das wir jetzt noch haben, ist die Rückwirkung. Denn dann hieß es, sie hätten zwar ihre Anträge korrekt gestellt, aber die Anträge seien rechtswirksam abgelehnt worden, und wenn es jetzt eine neue Aufnahme gebe, dann gelte laut Sozialgesetzbuch nur eine Rückwirkung von vier Jahren. Also wurden die Renten erst ab 2005 ausgezahlt.
Der Bundestag könnte das ändern und gesetzlich festlegen, dass die Renten schon ab 1997 ausgezahlt werden. Die SPD, die Grünen und die Linkspartei haben entsprechende Anträge gestellt, die Koalition hat es jedoch abgelehnt. Begründet wurde das damit, dass der sogenannte Zugangsfaktor höher ist – die Rente wird zwar später ausgezahlt, dafür ist der monatliche Satz aber höher.
Das greift aber nur dann, wenn man diese Rente auch entsprechend lange bezieht. Außerdem wird man, wenn man heute vielleicht 80 Jahre alt ist – und dann ist man ein junger Ghettorentenbezieher –, diese Rente keine 20 Jahre mehr beziehen können, und dann wird man auch nicht diesen Ausgleich erreichen.
Der CSU-Abgeordnete Max Straubinger hat in der Bundestagsdebatte auch darauf hingewiesen, dass die ehemaligen Ghettoarbeiter 2007 eine einmalige Zahlung von 2 000 Euro als »Anerkennungsleistung« erhalten hätten.
Die Anerkennungsleistung war aber nicht dafür gemacht, Leuten einen Ausgleich zu geben, die die Rente erst verspätet bekommen. Das war eigentlich eine Beruhigungspille für diejenigen, die nach der strengen Auslegung des ZRBG herausgefallen sind. Als der Bundesregierung auffiel, dass sie mit diesem Gesetz etwas losgetreten hatte, das im Ausland nicht so gut ankam, wurden an die Ghettoarbeiter einmalig 2 000 Euro aus­gezahlt. Das ist dann aber eine Entschädigungszahlung und eben keine Rente.
Entschädigung oder Rente – das ist ja ein Grundproblem bei der Ghettoarbeit. Wurde das ZRBG nicht von vornherein falsch angelegt, indem man das Rentenrecht angewendet hat, anstatt eine Entschädigung zu zahlen?
Nein, im Prinzip gehört die Ghettoarbeit ins Rentenrecht. Für die Menschen, die da gearbeitet haben, sind schließlich Sozialversicherungsbeiträge abgeführt worden! Die haben einen Anspruch auf eine deutsche Altersrente. Man kann jetzt nicht sagen, nur weil ihr Juden seid oder nur weil ihr in einem Ghetto gearbeitet habt, bekommt ihr diese Rente nicht, sondern eine Entschädigung.
Aber die ZRBG-Regelung erscheint doch absurd. Man bekommt eine Rente, wenn man »freiwillig« und gegen Entgelt im Ghetto gearbeitet hat?
Die Überlebenden, mit denen ich gesprochen habe, haben mir natürlich gesagt: »Ich war doch nicht freiwillig in diesem Ghetto. Wie kann ich da freiwillig eine Arbeit aufgenommen haben? Wir haben gearbeitet, um zu überleben.«
Darum ist die großzügige Auslegung, die das Bundessozialgericht 2009 verlangt hat, auch sinnvoll. Es muss sozusagen ein minimaler Rest an Freiwilligkeit da sein – etwa, dass man sich selbst darum bemüht hat, eine Arbeitsstelle zu finden. Das haben natürlich auch die allermeisten, denn Arbeiten bedeutete Überleben. Natürlich haben viele Ghettoarbeiter auch kein Geld bekommen – nur in den wenigsten Ghettos, in Lodz etwa oder in Theresienstadt, gab es Ghettogeld. In den kleinen Ghettos gab es das nicht, da waren sie froh, wenn sie für ihre Arbeit einfach einen Teller Suppe oder eine Scheibe Brot mehr bekommen haben.
In welcher Situation leben die ehemaligen Ghettoarbeiter heute?
Die Überlebenden der Ghettos haben sich nach 1945 in alle Winde zerstreut. Es gab eine große Auswanderungswelle, viele sind nach Israel gegangen, in die USA und in andere Staaten. Wir müssen uns einfach klar machen, dass diese Menschen jetzt sehr alt sind. Die jüngsten Überlebenden sind Ende 70 und die ältesten sind über 100. Die sind alt, in vielen Ländern ist es mit der Gesundheitsfürsorge auch nicht so weit her, das kostet alles Geld. Pflege kostet Geld, eine Wohnung altentauglich zu machen, kostet Geld. Da sind auch 200 oder 300 Euro im Monat schon ein Segen. Was würde es die Bundesrepublik denn kosten, die Renten nachzuzahlen oder die Betroffenen entsprechend zu entschädigen? Da kursieren Zahlen von 20 Millionen bis 500 Millionen Euro. Ich halte aber die niedrigeren Zahlen für realistischer. Man muss sich das mal vorstellen: Wir haben eine Bundesregierung, die sich weigert, NS-Überlebenden im Einzelfall ein paar Tausend Euro zukommen zu lassen. Aber auf der anderen Seite bekommt die NPD seit 2003 über 20 Millionen Euro Staatsknete. Da wird mir ganz schlecht, wenn ich daran denke.
Besteht denn die Aussicht, dass doch noch ein Gesetz geschaffen wird, um die Renten auszuzahlen?
Von Seiten der Koalition wurde ja im Bundestag schon gesagt, die Tür sei noch nicht ganz zu, und man würde nochmal sehen, was man machen kann. Wie das aussehen soll, weiß ich nicht. Möglich wäre aber, dass die Länder jetzt, nachdem der Bundestag die Anträge abgelehnt hat, eine Bundesratsinitiative starten.
Allerdings drängt die Zeit.
Das ist es ja, was uns jetzt schon seit über zehn Jahren aufregt, diese Verschleppungsstrategie. Nicht nur ein Überlebender, viele Überlebende haben mir schon gesagt: »Die warten doch nur darauf, dass wir alle sterben, dann müssen sie weniger bezahlen.«