Die Perspektive der sozialen Proteste in Spanien

Empörung ohne Ende

Die Bewegung der Indignados hat vor zwei Jahren mit Platzbesetzungen in ganz Spanien begonnen. Heute sind die Zeltlager verschwunden. Geblieben sind aber die Wut vieler Menschen und die Versuche, selbstorganisiert kollektive Strategien gegen die Krise zu entwickeln.

2011 war das Jahr, in dem die Plätze vieler spanischen Städte besetzt wurden, das Jahr der Indignados, der Empörten, und bereits das dritte Jahr der schweren Wirtschaftskrise, die bis heute anhält. Mittlerweile hat in über einer Million der spanischen Haushalte niemand mehr ein Einkommen, die Mehrheit der jungen Erwachsenen ist erwerbslos, die neben dem Tourismus wirtschaftlich wichtige Bauindustrie bietet kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Mehr als sechs Millionen Arbeitslose verzeichnet die staatliche Statistik. Die Krise wurde in Spanien durch das Platzen der Immobilienblase ausgelöst. Bankmanager hatten sich verspekuliert, es kam zu einem Überangebot an Neubauten. Als 2011 immer mehr Fälle bekannt wurden, bei denen Bauunternehmer Politiker für einen illegalen Extraprofit geschmiert hatten, reichte es vielen.
Auf der Puerta del Sol, dem großen Platz im Zentrum Madrids, gingen am 15. Mai 2011 die Empörten zum ersten Mal spontan auf der Straße. Eine Gruppe von Demonstrierenden beschloss, auf dem Platz zu übernachten. So begann die Acampada Sol. Der 15. Mai markierte die Geburt einer Bewegung, die deshalb auch unter dem Namen »15M« bekannt geworden ist.
Die Resonanz der Platzbesetzungen war groß, in den vergangenen zwei Jahren wurde darüber nicht nur auf Blogs und in Zeitungen berichtet, es gab Bücher und Filme, die versucht haben, zu beschreiben und analysieren, was auf den spanischen Plätzen passiert war. Nicht alle Versuche sind gelungen, so etwa den Film »Indignados« von Tony Gatlif, der 2012 auf der Berlinale gezeigt wurde. Darin werden vorgelesene Sequenzen aus dem bekannten Pamphlet »Empört Euch!« des mittlerweile verstorbenen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel beliebig mit Bildern der Demonstrationen der spanischen Indignados und der arabischen Revolten zusammengeschnitten. Damit schafft der Film es nicht, die spanische Bewegung für sich sprechen und ihren besonderen Charakter hervortreten zu lassen. Dieser besteht nämlich in einem Prozess der Selbstermächtigung der Teilnehmenden an den acampadas und in der direkten Teilnahme der einzelnen Personen an öffentlichen Debatten, Protesten und Entscheidungsprozessen.
Einen anderen Zugang bieten zwei Dokumentarfilme, die vergangenes Jahr in Spanien zu sehen waren. »Libre te quiero« von Basilio Martín Patino beginnt mit Bildern der Demonstration auf der Puerta del Sol und dokumentiert das Leben und den Alltag der Protestierenden zwischen Mai und Oktober 2011. »Ensayo de una revolución« von Pedro Sara und Antonio Labajo erzählt die Geschichte der Bewegung aus der Sicht der Teilnehmenden an der acampada in der kleinen Stadt Cadiz im Südwesten Analusiens und zeigt unter anderem, wie sich die acampada mit der Besetzung des Valcárcel Recuperado solidarisierte. Das Gebäude, das ein soziales Zentrum der Indignados geworden war, ist im Januar geräumt worden.
Beide Filme zeigen die 15M-Bewegung auch in ihrer Widersprüchlichkeit. Dabei wird deutlich, dass die Vorstellungen, was eine »spanische Revolution« sein soll, weit auseinander gehen. Sie reichen von einer »moralischen Erneuerung« bis zu radikalen Konzepten der Überwindung von Marktwirtschaft und Staatlichkeit.

Die 15M-Bewegung hat kein Programm und ihre Vertreterinnen und Vertreter betonen immer wieder, keine Partei zu sein. Neben vielen Vorschlägen dazu, wie die Wirtschaft und die Arbeit anders organisiert werden könnten, wird in der Bewegung besonderer Wert auf basisdemokratische Entscheidungsprozesse gelegt, in den lokalen Versammlungen sowie in jeder Arbeitsgruppe.
Zu den Büchern über die 15M-Bewegung gehört etwa »Nosotros, los indignados«, in dem Klaudia Álvarez, Pablo Gallego, Fabio Gándara und Óscar Rivas, die zu den Initiatoren der 15M gehören, über ihre Erfahrungen berichten. Dabei betonen sie die Offenheit der Bewegung, die sich als basisdemokratisch und plural versteht und dezentral und horizontal organisiert ist. Wichtige Merkmale sind außerdem die Ablehnung von Gewalt und die Abgrenzung zur traditionellen Linken.
Damit ist vor allem der sozialdemokratische PSOE gemeint, die auf den Demonstrationen der Indignados oft als PPSOE bezeichnet wird, wobei PP für den konservativen Partido Popular von Ministerpräsident Mariano Rajoy steht. Zum Zeitpunkt der Entstehung der 15M regierten die Sozialdemokraten noch. 2010 hatte die Regierung unter José Luis Zapatero begonnen, der Krise mit einer rabiaten Austeritätspolitik zu begegnen. Es folgten Einschnitte in soziale und staatliche Leistungen, Arbeitnehmerrechte wurden eingeschränkt. Die Bewegung 15M entstand, als es mit dem Sozialstaat rasant bergab ging. Als im August 2011 Zapatero mit Rajoy insgeheim ein Abkommen schloss, um handstreichartig mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament die Verfassung zu ändern und eine »Schuldenbremse« hineinzuschreiben, waren nicht nur die Indignados empört. Bei den vorgezogenen Wahlen am 20. November 2011 gewannen die Konservativen mit 45 Prozent der Wählerstimmen die absolute Mehrheit. Seitdem hat sich die Sparpolitik beschleunigt, besonders im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Der PP nutzt die Gunst der Stunde, um staatliche Leistungen zu privatisieren und Schulen und Krankenhäuser an kirchliche Träger und Unternehmen günstig zu verkaufen.
Die Erfahrung, dass beide großen Parteien eine Austeritätspolitik betreiben, verschafft der Bewegung immer wieder neuen Zulauf. Denn sie stellt für viele Spanierinnen und Spanier eine echte Alternative dar. Die großen Gewerkschaften haben als Trägerinnen sozialen Protestes in den vergangenen Jahren enorm an Glaubwürdigkeit verloren, weil sie bei der Austeritätspolitik der sozialdemokratischen Regierung viel zu lange stillgehalten und auf Verhandlungen anstatt auf Protest gesetzt haben. »CCOO, UGT und PSOE sind ganz klar getrennt von der sozialen Bewegung«, sagt etwa Tania S. Martín, die sich in der 15M engagiert, der Jungle World. »Von Einzelpersonen abgesehen, sind die Gewerkschaften als Organisationen überall schlecht angesehen«, fährt sie fort.
Die 15M richte sich in jedem Fall gegen die fatalistische Resignation, gegen die Haltung: »Man kann doch nichts machen gegen die da oben«, hebt der Autor Eugenio del Río hervor, sie habe in der spanischen Gesellschaft ein kritisches Bewusstsein reaktiviert.« Del Río schildert in seinem Ende 2012 erschienenen Buch »De la indignación de ayer a la de hoy« die Transformationen der alternativen Linken in Europa in den letzten 50 Jahren. Der Autor, der nach der Diktatur jahrelang politischer Sekretär der undogmatisch-maoistischen Kommunistischen Bewegung war, schreibt über die Pluralität der Bewegung, die zwar Versatzstücke alternativer, staatsferner linker Ideologien aufgenommen habe, deren Stärke aber vor allem der gegenseitige Respekt für abweichende Meinungen sei. Die Kehrseite diese Pluralität seien allerdings eine weitgehende Beliebigkeit und der immer aufs Neue beginnende Positionsfindungsprozess.

Die Stadtteilversammlungen der 15M sind das organisatorische Gerüst der Bewegung. Die Hauptversammlungen in über 80 Städten, von Bilbao bis Santa Cruz auf Teneriffa, sind nicht mehr so groß wie früher – mit Ausnahme von Madrid –, aber die Stadtteilversammlungen und die thematischen Arbeitsgruppen sind weiterhin sehr aktiv. »In jeder Stadt werden lokale Probleme bearbeitet. Ein Thema, das sich überall wiederholt, sind die Räumungen«, erzählt Tania. »Fast überall ist die 15M zu diesem Thema aktiv. Auch globale Aktionen werden organisiert, wie die Initiative Toque a Bankia.« Bankia ist eine Pleite gegangene und deshalb verstaatlichte Bank, die zahlreiche Räumungen von Wohnungen veranlasst hat. Im Rahmen der Aktionswochen zum zweijährigen Bestehen der Bewegung wurde am 9. Mai dazu aufgerufen, überall in Spanien Zweigstellen von Bankia zu besuchen, um dort gegen die Machenschaften der Bank zu protestieren.
Im Rahmen der Aktionswochen wurden auch ein Bildungsstreik in Madrid und eine Unterschriftensammlung gegen die Privatisierung von Krankenhäusern organisiert. Im Bildungsbereich gibt es seit Monaten immer wieder Streiks und Demonstrationen, bei denen alle Teilnehmenden etwas Grünes tragen. Das soll für die »Grüne Flut« stehen, wie sich der Protest genannt hat, in Anlehnung an die »Weiße Flut«, das gegen Mittelkürzungen und Privatisierungen protestierende Krankenhauspersonal. Im Bildungsbereich gibt es eine lange Tradition von Protesten gegen Privatisierung, und die Gewerkschaften sind ziemlich stark. Je nach Region mischt sich die 15M hier mehr oder weniger ein. »Im Gesundheitsbereich, der traditionell eher konservativ ist, sieht es anders aus«, sagt Tania. »Eigentlich bin ich sehr positiv überrascht, wie stark sich die 15M in Madrid im Gesundheitsbereich engagiert.«
Ein Problem für die Bewegung, die den gewaltfreien zivilen Ungehorsam praktiziert und Verbote friedlich übertritt, ist die Repression, die immer stärker wird. Man spricht von sichtbarer und unsichtbarer Repression. Die sichtbare ist die Polizeigewalt – im Haushalt für 2013 hat die Regierung die Ausgaben für die Polizeiausrüstung um 1 780 Prozent erhöht, während die Ausgaben für Gesundheit und Bildung jeweils um 23 und 20 Prozent gekürzt wurden. Die unsichtbare Repression läuft über Geldstrafen. Diese werden immer öfter verhängt, was mittlerweile viele örtliche Versammlungen an den Rand der Zahlungsfähigkeit gebracht hat. »Manche habe mehrere Geldstrafen zwischen 300 und 2 000 Euro bekommen. Die Geldstrafen werden durch die juristische AG der 15M in jeder Stadt bearbeitet«, erzählt Tanja.
Die Bewegung geht mit der sichtbaren und der unsichtbaren Repression kollektiv um und versucht, sie zu dokumentieren. Regelübertretungen wird es bei den Protesten weiterhin geben. So werden in ganz Spanien täglich im Schnitt 517 Wohnungen geräumt – über 400 000 Räumungen gab es schon seit Ausbruch der Wirtschaftskrise. Der Anteil der Räumungen, die tatsächlich verhindert worden sind, ist zwar sehr gering, insgesamt waren es bisher etwa 500. Aber der symbolische Wert dieser Aktionen ist sehr hoch, denn daraus hat sich eine breite gesellschaftliche Debatte entwickelt. Das wird in der Bewegung als Fortschritt gesehen. Denn hier geht es um eine konkrete, materielle Not, die immer mehr Menschen betrifft. Die Polizei, die schutzlose Familien brutal aus ihren Wohnungen wirft, macht immer mehr Menschen klar, dass die Notwendigkeit, sich zu empören, nach wie vor besteht.