Flüchtlinge in Ungarn

Knast oder Straße

Asylsuchenden in Ungarn drohen neben rassistischen Übergriffen auch Abschiebung, Inhaftierung und Obdachlosigkeit. Doch die Weiterflucht in einen anderen EU-Staat wird durch die Dublin-II-Verordnung erschwert.

»Wir haben festgestellt, dass das Europäische Asylsystem nicht funktioniert. Wir werden dieses System nicht akzeptieren. Unser politischer Widerstand heißt Bewegung. Wir müssen das für unsere Kinder tun.« So endet eine Erklärung von über 70 Flüchtlingen aus Afghanistan, die im Juni gemeinsam von Ungarn nach Karlsruhe in Deutschland weitergeflohen sind, weil all ihre Versuche, in Ungarn Lebensbedingungen für sich zu schaffen, die ihnen die Integration in die ungarische Gesellschaft ermöglichen, gescheitert sind. Was sie alles versucht haben, zählen sie in ihrer Erklärung detailliert auf: Proteste vor dem ungarischen Parlament. Briefe an den Innenminister und die ungarische Migrationsbehörde (OIN). Beschwerden bei der EU-Kommission. Gespräche mit dem UNHCR. Erreicht haben sie damit lediglich die Zusage der Behörden, nicht mitten im Winter aus dem sogenannten Pre-Integra­tion-Camp in Bicske heraus auf die Straße gesetzt zu werden. Und das Angebot, in einer Obdach­losenunterkunft unterzukommen – die nach Angaben der Flüchtlinge nur zehn Plätze frei hatte und keinen für ihre Kinder.

Dabei hatten die nach Deutschland Weitergeflohenen in Ungarn eigentlich noch Glück, da sie alle im ungarischen Asylverfahren einen Schutzstatus erhielten. Diesen erhalten in Ungarn im europäischen Vergleich zwar relativ viele der Menschen, die das Asylverfahren durchlaufen. Aber vielen Flüchtlingen wurde laut einem Bericht des Vereins bordermonitoring.eu und von Pro Asyl von 2012 schlicht der Zugang zum Asylverfahren verwehrt.
Wer an der ungarischen Grenze über die Ukraine kommend einen Asylantrag stellt, dem droht, dass die ungarische Grenzpolizei diesen schlicht ignoriert. Berichten von bordermonitoring.eu zufolge werden immer wieder Betroffene einfach als »illegale« Migranten zurückgeschoben  – ein klarer Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wie wenig die darin verbürgten Flüchtlingsrechte in der Praxis zählen, zeigt, was etwa mit den in die Ukraine zurückgeschobenen Asylsuchenden passiert: Ihnen droht monatelange Inhaftierung in mit Hilfe von EU-Geldern erbauten ukrainischen Flüchtlingsknästen.
Auch in Ungarn wurden Asylsuchende bis vor kurzem systematisch inhaftiert. 2010 hatte die Regierung Viktor Orbáns das ungarische Asyl- und Ausländerrecht verschärft, so dass Asylsuchende maximal zwölf Monate lang inhaftiert werden konnten. Mehreren Berichten zufolge gehörten Misshandlungen durch die Aufseher zum Alltag. Ein Bericht des ungarischen Helsinki-Komitees spricht von kollektiven Bestrafungsaktionen und rassistischen Schikanen seitens des Wachpersonals. Immer wieder wurde über Hungerstreiks und Selbstverletzungen berichtet, etwa von traumatisierten Flüchtlingen, die wie andere besonders schutzbedürftige Personen, etwa Schwangere, Behinderte, Kranke und willkürlich als Erwachsene eingestufte Minderjährige, in ungarischen Flüchtlingsknästen einsaßen. Auch Fa­milien mit Kindern konnten für maximal 30 Tage inhaftiert werden.
»Wenn du wissen willst, was Ungarn für Flüchtlinge bedeutet, dann musst du versuchen zu verstehen, was es heißt, sechs Monate in einem Gefängnis zu leben, das nur mit Tramadol zu ertragen ist«, zitiert der Bericht »Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit« von bordermonitoring.eu und Pro Asyl einen iranischen Schutzsuchenden, der in Ungarn inhaftiert war. Zahlreiche Asylsuchende berichten, dass sie in Haft systematisch mit starken Beruhigungsmitteln sediert wurden. Trotz aller dokumentierten Menschenrechtsverstöße in den Knästen lag die Chance, vor ungarischen Gerichten erfolgreich gegen die Inhaftierung zu klagen, nahezu bei Null.

Offenbar ging das schließlich auch der Europäischen Kommission und Gerichten in anderen EU-Staaten zu weit, die unter den gegebenen Bedingungen keine sogenannten Dublin-Rückführungen von aus Ungarn weitergeflohenen Flüchtlingen mehr durchwinken wollten. Nach Auskünften von Marc Speer von bordermonitoring.eu, einem der Verfasser des Ungarn-Berichts, wurden, wohl auf Druck der EU, die ungarischen Gesetze zum 1. Januar 2012 modifiziert: Wer unverzüglich nach seinem Aufgriff einen Asylantrag stellte, sollte nun von der Haft ausgenommen werden. Sogenannte Dublin-II-Rückkehrer sollten grundsätzlich nicht mehr inhaftiert werden. Bei ihnen handelt es sich um Flüchtlinge, die vor der ka­tastrophalen Situation in Ungarn in andere EU-Staaten weitergeflohen sind. Nach der Dublin-Verordnung, die besagt, dass ein Asylsuchender in jenem Staat zu bleiben hat, in dem er zuerst registriert wurde, werden Flüchtlinge, die innerhalb der EU weiterfliehen, zurückgeschoben. Dass Ungarn jene Zurückgeschobenen lange Zeit für ihre Weiterflucht bestrafte und besonders unfairer Behandlung unterzog, war für andere EU-Staaten problematisch, konnten doch Gerichte mit Verweis auf das drohende Schicksal der Abzuschiebenden die »Dublin-Überstellung« verhindern. So begrüßenswert die Neuregelung der Gesetzeslage für die Betroffenen auch ist, ist davon auszugehen, dass sie nicht zuletzt dazu dient, sicherzustellen, dass weiterhin nach Ungarn abgeschoben werden kann.
Ironischerweise gibt es nun eine neue EU-Gesetzgebung, die Speer befürchten lässt, dass Ungarn Asylsuchende wieder systematisch hinter Gitter bringen könnte: Die Neufassung der sogenannten EU-Aufnahmerichtlinie enthält zahlreiche Bestimmungen, aufgrund derer theoretisch fast alle Asylsuchenden in Haft genommen werden können. Ungarn hat einige der in der Richtlinie genannte »Haftgründe« bereits in die nationale Gesetzgebung aufgenommen. So können Asylsuchende in Ungarn seit Juli 2013 etwa »zur Überprüfung der Identität und Nationalität des Antragstellers«, »zum Schutz der öffentlichen und der nationalen Sicherheit« und aus anderen Gründen inhaftiert werden. Soweit bekannt, wurden bereits 75 Flüchtlinge, vor allem aus Pakistan, in der Haftanstalt Nyírbátor inhaftiert, darunter einige Dublin-Rückkehrer. Zu befürchten ist, dass es in Zukunft weitaus mehr Inhaftierungen ­geben wird.

Doch wie das Beispiel der von Ungarn kollektiv nach Baden-Württemberg geflohenen Schutzsuchenden zeigt, ist die Situation von Flüchtlingen in Ungarn selbst nach Erhalt des Schutzstatus äußerst schlecht. »Ungarn hat uns wertlose Papiere gegeben. Wir werden aus dem Lager geworfen. Wo sollen wir hingehen? Ich kann doch nicht mit den Kindern auf der Straße leben«, zitiert bordermonitoring.eu eine Frau aus Afghanistan. In der Regel dürfen die Flüchtlinge nur sechs Monate im Pre-Integration-Camp bleiben. Danach droht ihnen, auf der Straße leben zu müssen.
Die staatliche Unterstützung für Flüchtlinge reicht bei weitem nicht aus, um eine Wohnung zu mieten, wie Speer vorrechnet: Eine alleinerziehende Mutter aus Afghanistan mit drei minderjährigen Kindern habe etwa für sich und ihre Kinder rund 152 Euro monatliche Unterstützung bewilligt bekommen. Dazu gebe es Kindergeld, insgesamt komme die Familie damit auf rund 380 Euro im Monat. »Sozialarbeiter haben ihr geholfen, eine billige Wohnung in Budapest zu finden, die warm nur rund 320 Euro kosten würde. Wie aber soll die vierköpfige Familie von den dann ihr noch bleibenden 60 Euro leben?« Da viele der Betroffenen wegen nahezu unüberwindbarer bürokratischer Hürden nicht einmal die ihnen zustehende geringe finanzielle Unterstützung erhalten, drohe jenen, die in Ungarn bleiben, über kurz oder lang Odachlosigkeit.
Das bedeutet für Flüchtlinge nicht nur Kälte und Hunger, sondern auch, dem Rassismus der ungarischen Gesellschaft schutzlos ausgeliefert zu sein, der sich auch immer wieder in Protesten gegen Flüchtlingslager entlädt. So protestierten im Juli Hunderte Ungarinnen und Ungarn in Győr gegen die Eröffnung eines Lagers für »illegal eingewanderte Ausländer«, wie die deutschsprachige Zeitung Pester Lloyd berichtete. Der Protest wurde von der Sorge »um eine erhöhte Kriminalität in der Gegend« motiviert, nicht von der Sorge um das Wohl der Flüchtlinge, wie die Zeitung klarstellte.
Im April 2013 veranstaltete die rechtsextreme Partei Jobbik einen Fackelmarsch in Debrecen, um gegen das dortige Erstaufnahmelager zu demonstrieren. Derzeit ist es wegen der drastisch angestiegen Asylantragszahlen stark überbelegt. Schon im vergangenen Jahr sahen sich Flüchtlinge, die in Balassagyarmat in einer Art offenem Abschiebelager untergebracht sind, rassistischer Hetze ausgesetzt, die nach Informationen von bordermonitoring.eu vor allem von einem Abgeordneten Jobbiks ausging. Infolge der Hetze kam es offenbar zu mehreren Angriffen auf dort untergebrachte Asylsuchende.
Fast alle Flüchtlinge, die in Ungarn obdachlos waren, gaben gegenüber dem Rechercheteam von bordermonitoring.eu an, rassistische Beleidigungen, Diskriminierung und sogar körperliche Angriffe gegen sich oder Freunde und Bekannte erlebt zu haben. Erschwerend kommt hinzu, dass Obdachlosen in Ungarn generell die Kriminalisierung droht. Im April 2011 ist ein Gesetz in Kraft getreten, das es kommunalen Parlamenten erlaubt, die Übernachtung in Bahnhöfen oder auf offener Straße gesetzlich zu verbieten. Rund 165 Euro soll die Strafe für »Wohnen auf der Straße« betragen. Wer nicht zahlen kann oder »Wiederholungstäter« ist, kann inhaftiert werden. Nachdem das Gesetz im Dezember 2012 vom ungarischen Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden war, änderte die Regierung Orbán im März 2013 kurzerhand die Verfassung.
Auch wenn die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit deutlich macht, wie es um die Menschenrechte von marginalisierten Gruppen in Ungarn steht, dürften die aus Ungarn nach Baden-Württemberg weitergeflohenen Flüchtlinge ihre Abschiebebescheide auf Grundlage der Dublin-Verordnung bereits in den Händen halten. Ob sie tatsächlich nach Ungarn zurückgeschoben werden, hängt nun von deutschen Verwaltungsgerichten ab.