Die Ängste deutscher Kulturschaffender

Rettet unsere Kultur!

Der deutsche Kulturbetrieb fühlt sich vom Freihandelsabkommen bedroht. Mit Kapitalismuskritik haben die Ängste deutscher »Kulturschaffender« nichts zu tun.

Der Auftrag, der als höfliche Bitte an mich herangetragen wurde, lautete, einen weiteren Beitrag zur Debatte der deutschen Kulturszene zum Freihandelsabkommen mit den USA zu schreiben. Das schien mir einfach, bevor ich mich dem Material zum Thema widmete, an dem vor allem einmal mehr deutlich wird, dass vom Unmittelbaren sich nicht unmittelbar sprechen lässt, wenn dabei auch nur ansatzweise etwas Richtiges herauskommen soll.
In der Beständigkeit der Verhältnisse, die als verkehrte sich erhalten, ist auch jede postulierte Wahrheit fragwürdig, denn worauf zielt sie, der nichts anderes beschieden ist, als bei sich selbst und ihresgleichen zu verweilen – in der reinen Theorie? Eine sachliche Berichterstattung würde der zutiefst ideologischen Debatte, um die es hier geht, auf den Leim gehen. Denn gelogen und geheuchelt wird in jedem Betrieb, dass sich die Balken biegen, das ist schon aus Gründen der Selbsterhaltung so, heißt es.
»Unser kleines, gemütliches System wurde plötzlich auf den Kopf gestellt.« Ähnlich wie dem Galeristen der Berliner Contemporary Fine Arts ging es uns Ende der neunziger Jahre in einer bayerischen Antifa-Gruppe, als Deutschland unter einer rot-grünen Regierung sich am Kosovo-Krieg beteiligte, die Zweite Intifada ausgerufen wurde, die ersten unserer Freunde sich das Leben nahmen und wir zunehmend damit konfrontiert waren, dass unser antikapitalistisches Weltbild der ungeliebten Realität womöglich angepasster war, als uns lieb sein konnte. Mit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 zerbrach dessen Gefüge unwiderruflich, nicht nur, weil erklärte Antifaschisten, mit denen wir schon gemeinsam demonstriert hatten, zum Massenmord die Sektkorken knallen ließen und wenig später damit drohten, unseren Infoladen anzuzünden, nachdem dort eine Verlautbarung gegen Antisemitismus und zur Solidarität mit Israel aufgehängt worden war. Gemütlich war es schon damals nicht; die Vergangenheit reizt aber bekanntermaßen zur Verklärung, wie die Gegenwart zur Verdrängung; nicht nur, weil bestimmte Dinge schlimmer werden, sondern gerade auch, weil das Ganze gleich bleibt. Für den Schrecken, den sie hervorbringt, muss die Kultur paradoxerweise zugleich als Deckmäntelchen herhalten.

Gemäß Repräsentanten des deutschen Kulturbetriebs scheinen in diesem, wenn auch keine paradiesischen, so doch Zustände zu herrschen, die es verdienten, in der gleichen Allgemeinheit erhalten und beschützt zu werden, wie es bedrohten Arten manchmal zuteil wird. Vom europäischen Einzelwesen aus gesprochen: »Es ist die alte Frage: Wie viel gebe ich von mir selber auf für ein größeres Ganzes?« Aus dem Zusammenhang – einer Podiumsdiskussion, organisiert von der Süddeutschen Zeitung im August – ergibt sich, dass der Sprecher, Jo Lendle, der Chef des Hanser-Verlags, mit sich selbst gar nicht sich selbst meint, sondern sich selbst als mit Europa Identifizierter, also noch nicht einmal mehr als nur der völkischen Gattung der Deutschen zuzurechnen, sondern gleich einer ganzen Völkergemeinschaft. Was da aufzugeben sei, um den eigenen Identifikationsradius noch auf die USA und ihre Spezifika auszudehnen – das ist tatsächlich schwer vorstellbar, widerspricht sich das alles doch bis ins Innerste der Verfassung der Subjekte und bis zum Äußersten der staatlichen Verfasstheit.
In der daraus folgenden Spannung liegt auch die wirkliche Bedrohung durch das Freihandelsabkommen: Weniger hat man sich sicher vor den Amerikanern und ihren Geschäftsinteressen zu fürchten als vor dem, was geschieht, wenn durch den Markt die verschiedenen Interessen und Widersprüche zusammengezwungen werden. Bedenken sollte man, was sich in den Staaten der Europäischen Union in den vergangenen Jahren an furchtbaren Entwicklungen zugetragen hat, die sich noch weiter verschärfen.
In der gesamten öffentlichen Diskussion zum Thema Freihandel und Kultur werden die Begriffe mit unhinterfragter Willkür und Selbstverständlichkeit gehandhabt, ohne sie je näher zu bezeichnen. Gerettet werden soll die ominöse deutsche Kultur durch Transparenz, die richtige Ordnung und die richtigen Gesetze. »Wir wollen ja einen weltweiten vernünftigen Handel unter vernünftigen Standards«, sagt Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat. Jedoch: »Kultur (ist) im marktwirtschaftlichen Sinne nicht rentabel (…). Ich kenne keine Museen und auch keine Opernhäuser, die Gewinn machen.« Damit sind wir bei dem schmerzhaften Punkt, auf den die Debatten zusammenzulaufen scheinen: Ein sogenannter freier Markt, auf dem alle unter den gleichen Bedingungen miteinander konkurrieren müssen, würde das Ende oder eine starke Einschränkung der öffentlichen Kulturförderung und somit den Bankrott von Theatern, Museen und Opern bedeuten, die offenbar ohne die »künstlichen« Zuwendungen nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht sich hätten erhalten oder gegründet werden können. Genau auf diesen Punkt und damit auf den Zusammenhang von Weltkrieg und antisemitischer Massenvernichtung mit der deutschen Kultur hätten sowohl der Kulturbetrieb als auch seine Kritiker zu reflektieren, wenn es um etwas anderes ginge als um den jämmerlichen Erhalt der eigenen Mittel beziehungsweise der eigenen Haltung.
In der Diskussion wird die Kultur über ihren realen Grund erhoben, von der sie auch im aktuellen »Duden« abgeschnitten wurde: Seit 2010 wird Kultur dort als »die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, eines Volkes« definiert. Konkret existiert keine Gesamtheit von Lebensäußerungen, auch kann ein Volk keine solchen hervorbringen; man mag sich den Begriff noch so organisch vorstellen: Ein Volk lebt nicht. Wer lebt, das sind die Leute. Wie sie das tun und was sie äußern, das lässt durchaus auf die Qualität der Kultur schließen, und daraus auch müsste der Begriff kommen, hätte er wesentlich mit seinem Gegenstand zu tun. Nicht der Geist, sondern der bestimmte Gedanke ist eine Lebensäußerung, nicht eine künstlerische Gesamtheit, sondern ein Kunstwerk, und beide sind es nicht unmittelbar, sondern gesellschaftlich vermittelt.

Wer ernsthaft sich mit diesem Phänomen beschäftigen will oder muss, dem sei dazu geraten, sich einen Vortrag von Adorno aus dem Jahre 1959 über Kultur und Verwaltung anzuhören. Es wird dort einiges in Grundzügen beschrieben, was heute in all seiner Partikularität sich derart verallgemeinert hat, dass es gerade darum den meisten grundlos gerechtfertigt erscheint.
»Nimmt man den Begriff Kultur nachdrücklich genug als die Entbarbarisierung der Menschen, die sie dem Zustand bloßer Natur enthebt, ohne diesen Zustand durch gewalttätige Unterdrückung erst recht zu perpetuieren, dann ist Kultur überhaupt misslungen.« Das zu verdrängen, ist unter anderem Sinn der Debatte, wie sie geführt wird. Die panische Angst des deutschen Kulturbetriebs um die geltenden Rechtsnormen, den Verlust der Fördermittel und vor einer »Ausweitung der Kampfzone« ist ohne diesen Zusammenhang nicht zu begreifen.
Der Kultur kommt objektiv die Funktion zu, jede Unmittelbarkeit und Spontaneität zum Verschwinden zu bringen; ihre Mittel weisen die Beschaffenheit auf, der es bedarf, um das voranzutreiben. Um Momente, die darin ernstlich zum Widerspruch und Widerstand aufreizen, ist es schlecht bestellt – und beides entgegen dem Zeitlauf aufrechtzuerhalten, gilt zu Recht und doch fälschlicherweise als Unding.
Der Betrieb verlangt allgemein von seinen Angestellten Einverständnis und Abgebrühtheit. Wer beides nicht aufbringt, wird sanktioniert und ausgeschlossen. Wer im Kulturbetrieb seinen unique selling point nicht professionell und hartnäckig vorzutragen versteht, keine Entscheider kennt und dem Sponsor keine attraktiven und außergewöhnlichen Angebote zur Platzierung seines Logos anbieten kann, dem hilft auch nicht, wenn er »richtungweisende Kulturprojekte mit modellbildendem Charakter« hervorbringt, die zu fördern dem traditionsreichsten Vertreter deutscher Kulturförderung ein Anliegen ist, dem Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) e. V. Der »fördert seit 1951 Kunst und Kultur und setzt sich für eine Gesellschaft ein, in der Kultur als unverzichtbare Ressource verstanden wird«. Außerdem folgt er Leitsätzen: »Kultur und Wirtschaft basieren auf denselben Grundvoraussetzungen: Idea, Inventio, Innovatio. Beide entwickeln sich über dieselben Impulse: Kreativität, Mut zum Aufbruch und Drang nach Erneuerung.« Das ist verlogenes Gewäsch, wie jeder Leitsatz, der als Werbung dient. Unter den praktischen Tipps zur Akquise von Sponsoren der Handelskammer Hamburg findet sich auch folgender: »Vermeiden Sie Formulierungen wie: ›Weil die Stadt unsere Mittel gekürzt hat, suchen wir jetzt Sponsoren.‹ Sie suchen Partner für ein Projekt, das sich für Sponsoringmaßnahmen eignet, und Sie haben dafür Argumente.«
Damit ist einiges gesagt über das Verhältnis deutscher Kulturschaffender und ihrer Förderer sowohl zur Wirklichkeit als auch zur Wahrheit.